Verbindet man Rio de Janeiro mit Strand und Samba, hat die große Nachbarin São Paulo das Image einer Bladerunnerin mit krimineller Vergangenheit: wüst, potenziell gefährlich – und alles andere als sexy. Was auf den ersten Blick natürlich stimmt. Beim Landeanflug zeigt sich die mit 11 Millionen Einwohnern größte Stadt Südamerikas als schier endloses Hochhausmeer. Abertausende Skyscraper, soweit das Auge reicht, am Horizont nur noch stecknadelkopfgroß. Es klingt vielleicht verrückt, aber dieser Anblick hat etwas Berauschendes – in seiner Homogenität einen Reiz, dem man sich nur schwer entziehen kann.
São Paulo besitzt eine ganz besondere Ausstrahlung. Das ist nicht zuletzt der Verdienst des Bürgermeisters Gilberto Kassab, der ‚Sampa‘, wie die Locals ihre Stadt nennen, 2006 zur Clean City erklärte – und jede Art von großflächiger Werbung aus dem Stadtbild verbannte. Mit grandiosem Effekt: Die Straßenzüge wirken einheitlich, aufgeräumt, wie generalgereinigt vom schreiend lauten Werbebannern und aufmerksamkeitsheischenden Plakaten. Wenn etwas grellbunt und grafisch ist, dann sind es Graffiti und Streetart-Tags, für deren hohen künstlerischen Anspruch São Paulo bekannt, ja sogar berühmt ist.
Ein guter Spot, um die urbane Schönheit zu würdigen, ist die Dachterrasse des Edifício Itália, eines der höchsten Gebäude der Stadt. Von hier aus genießt man nicht nur einen 360-Grad-Blick auf die pastellfarbenen Betonbauten, sondern kann gleichzeitig eines der Wahrzeichen der Stadt bewundern: die imposant geschwungene Fassade des Copan-Gebäudes, das, wie viele der großartigen Bauwerke im ganzen Land, aus der Feder des genialen Oscar Niemeyers stammt. Der brasilianische Architekt war es auch, der gemeinsam mit Roberto Burle Marx eine weitere Sehenswürdigkeit der Megapolis gestaltete: den Ibirapuera Park, die große grüne Lunge der Stadt.
Inzwischen über hundert Jahre alt, steckt Señor Niemeyer noch immer voller Schaffenskraft und ist als Wegbereiter der Brasilianischen Moderne den Nachgeborenen seiner Zunft lebendiges Vorbild. So auch dem mittlerweile selbst schon legendären Architekten Isay Weinfeld, der für die spannendsten Shopping- und Gastroprojekte in São Paulo verantwortlich zeichnet. Fantastisch zu sehen, wie viel Aufmerksamkeit man im Boomland Brasilien dem Ladenbau und Interior Design schenkt. Was hier an Läden und Restaurants aus dem Boden schießt – von einer solchen Vielfalt träumt Europa. São Paulo denkt schlichtweg groß, das ist vor allem im noblen Stadtteil Jardins unübersehbar. Das Viertel, das im Nordosten von der Avenida Paulista und im Südwesten von der Avenida Brasil begrenzt wird, strotzt nur so vor extravaganten Shops und exquisiten Restaurants. Zugegeben, das Angebot ist kostspielig, selbst für europäische Verhältnisse, versetzt aber auch nachhaltig in Staunen.
Etwas günstiger – und nicht weniger inspirierend – geht es in den hippen jungen Vierteln Vila Madalena und Pinheiros zu. Hier reihen sich aufstrebende Restaurants, Vintage-Läden und Interior-Design-Shops aneinander. Nicht zu vergessen: die zahlreichen Kunstgalerien, die eines eint: internationales Renommee. Schließlich logieren sie in der Stadt, die mit der SP-Arte die bedeutendste Kunstmesse Südamerikas ausrichtet.
Doch bei all ihren gastronomischen und kulturellen Vorzügen: São Paulo ist und bleibt eine Businessstadt. Touristen sind rar gesät. Sogar die Schönen und Reichen, andernorts eher gleichgültig gegenüber Fremden, freuen sich offenkundig, dass man den Weg nach ‚Sampa‘ gefunden hat. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Paulistas – sie ist sprichwörtlich und sorgt dafür, dass in der Millionenmetropole menschliche Wärme, ja, völlig unerwartet, ein fast schon gemütliches Flair herrscht. Gemütlich statt gefährlich, das entsprach ganz den Vorstellungen von J’N’C-Chefredakteurin Ilona Marx und des Kapstädter Fotografen Adriaan Louw, die sich bei ihrem nachträglichen Besuch in Rio so manches Mal nach São Paulo zurücksehnten.
Ausgewählte Texte aus dem City Guide
In einem begrünten Holzhaus, das sich mit seinem hohen Giebel und den geöffneten Sprossenfenstern deutlich von den schicken Flachdachbauten der Nachbarschaft auf der Alameda Franca abhebt, befindet sich das Reich von Adriana Barra. Die Modedesignerin, die sich dem Entwerfen üppig gemusterter Kleider verschrieben hat, residiert hier in einem wahr gewordenen Mädchentraum. Schon beim Betreten der intimen Location – wer eingelassen werden möchte, muss erst klingeln – verschlägt es dem Neuling fast die Sprache angesichts der Farbexplosion und überbordenden Dekoration. Über drei Etagen erstreckt sich das verwinkelte Ladenlokal – und auf allen gibt es etwas zu entdecken: Wild gemusterte Sofas, auf denen sich bestickte Kissen türmen, treffen auf bunte Kachelböden. Schränke und Regale quellen geradezu über vor Püppchen und Porzellan, Schmuck und kleinen Interior-Design-Accessoires. Dass Adriana auch bei ihren Kleiderkollektionen gern aus dem Vollen schöpft, versteht sich beim Anblick dieser inspirierenden Umgebung von selbst. Ähnlich wie der spanische Designer Custo beherrscht auch sie die schwierige Kunst des Mustermixes. Von Blütendrucken bis Animalprints, von Retro bis Exotik – und wieder zurück. Scheinbar mühelos zappt sich Barra durch die Stile und Zeiten – zur Begeisterung ihrer zahlungskräftigen Kundschaft. Zwischen 2.000 und 3.000 Euro kosten die bunten Kleider im Schnitt. Für manche Paulista bleibt es da leider beim Mädchentraum.
In Sachen Kaffee macht man den Brasilianern bekanntlich nichts vor – eher öfter mal etwas nach! Wie viel Trendpotenzial darin liegt, das Hallo-wach-Getränk mit herzhaften Beigaben wie Salz, Frischkäse oder Parmesan – ja, richtig gehört! – zu würzen, bleibt abzuwarten. Die erfahrenen Barristas des Coffee Lab, das seit April 2011 im Up-and-coming-Viertel Vila Madalena beheimatet ist, sind jedenfalls der Meinung, dass Kaffee sich viel besser mit Salzigem als mit Süßem verträgt. Allen voran Isabela Raposeiras. Bevor sie ihren Kaffeetempel eröffnete, war die Bohnenexpertin bereits zehn Jahre in der Mission unterwegs, Restaurants und Cafés von ihren ungewöhnlichen Rezepturen zu überzeugen – kein Problem angesichts ihres Fachwissens und der hohen Qualität des Rohstoffs. Die Bohnen, mit denen Raposeiras experimentiert, stammen nämlich allesamt aus Brasilien, und zwar aus organischem Anbau. Geröstet werden sie – auch das ist Ehrensache, meint man es ernst mit der Kaffeekultur – vor Ort. Zehn verschiedene Sorten stehen zur Auswahl. Genaue Angaben zur geografischen Herkunft samt Längen- und Breitengrad überzeugen auch Kenner. Doch bei aller Strenge des Konzepts: Auf der kleinen Speisekarte zeigt sich das Coffee-Lab-Team dann doch von seiner toleranten Seite. Neben herzhaften Snacks sind süße Kuchen im Angebot, so dass auch der konservativere Gaumen zu seinem Recht kommt.
Schuhe aus Plastik gehören zu Brasilien wie karierte Kilts zu Schottland. Denn nicht nur die Havaianas, die hiesigen Zehensandalen, sind ein Exportschlager. Für das Kunststoffschuhwerk von Melissa gilt dasselbe. Seit über drei Jahrzehnten ist das brasilianische Unternehmen auf Schuhe spezialisiert, die ohne das kleinste bisschen Leder oder Stoff auskommen. Zum 30. Geburtstag unternahm man eine Bestandsaufnahme. Das Ergebnis: Über 500 unterschiedliche Modelle und mehr als 60 Millionen Paar Schuhe hatte man bis dato designt und produziert, davon 20 Millionen Paar in über 80 Länder exportiert. Großes Renommee brachten Melissa Kooperationen mit den Big Players der Modebranche ein, mit Jean Paul Gaultier, Patrick Cox, Thierry Mugler und Alexandre Herchcovitch beispielweise. Zusammenarbeiten gab es auch mit Möbeldesignern wie den Campana-Brothers, Karim Rashid und J. Maskrey. Im Jahr 2008 gesellten sich zwei außergewöhnliche Frauen zur illustren Liste der Partner hinzu: Vivienne Westwood und die iranische Architektin Zaha Hadid. Die Verbundenheit mit der Welt der Kunst und des Designs beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Kollektion. So ist der Eingangsbereich des Melisssa-Flagships auf der edlen Einkaufsmeile Oscar Freire eine weitere Spielwiese des kooperationsfreudigen Labels. Die elliptischen Wände des Vorhofs dienen als Open-Air-Galerie: Jede Saison wird ein anderer Künstler damit betraut, das imposante Halbrund zu gestalten, so dass sich der Store stetig auf spektakuläre Weise wandelt.
Woran liegt es wohl, dass São Paulo neben New York als die Hochburg des Graffiti und der Streetart gilt? Vielleicht daran, dass die 20-Millionen-Metropole für die jungen Künstler einen schier unermesslichen ‚Gestaltungsspielraum‘ bietet? Klingt logisch – liefert laut Baixo Ribeiro aber keine hinreichende Begründung. Der Co-Inhaber der renommierten Streetart Galerie Choque Cultural sieht in der hiesigen Skate- und HipHop-Community den wahren Nährboden für das Phänomen. Außerdem, denkt sich unsereins, hat die Polizei der Stadt bestimmt Besseres zu tun, als zeichenbegabten, mit bunten Spraydosen ausgerüsteten Jungs nachzujagen. Wie dem auch sei: São Paulo ist ein Mekka der Tags. Dass die hiesige Straßenkunst mittlerweile auch Einzug in die Welt der Fine Arts gefunden hat und ein Publikum vom Favela-Bewohner bis hin zum kunstbeflissenen Museumsbesucher auf den Plan ruft, daran ist Ribeiro nicht ganz unschuldig. War er es doch, der 2006 einen Austausch mit der angesehenen Galerie Fortes Vilaça anregte. Der Deal: Ribeiros Schützlinge, zu denen übrigens auch internationale Namen wie Gary Baseman oder Tara McPherson gehören, stellten bei Fortes Vilaça aus. Im Gegenzug performten Künstler wie Ernesto Neto, Adriana Varejão, Beatriz Milhazes und Vick Muniz bei Choque Cultural. Inzwischen ist die Galerie im Stadtteil Pinheiros eine feste Größe in der internationalen Kunstwelt – und ein Must-see für all die, deren Herz für urbane Kunst, Graffiti, Grafikdesign und Illustration schlägt.
J’N’C Magazine
Ausgabe 02/2012