Mit einem eisigen Wind im Rücken eilt Jin Teok auf das Gebäude zu, das an ein silbrig schimmerndes Raumschiff erinnert. Die schwarze Hose und das cremeweiße Wollgilet schmiegen sich um ihre Beine wie Yin und Yang. „Uhhh, so cold!“, haucht sie in die Märzluft. Eine weitere Böe treibt Jin Teok die breite Rampe zum unterirdischen Eingang des futuristischen Dongdaemun Design Plaza hinunter, den Zaha Hadid 2014 wie ein Ufo-Geschwader zwischen einigen in die Jahre gekommenen Zweckbauten im Osten Seouls landen ließ. Die Designerin ist hier, um eine Show ihres Kollegen Lee Jae Hyung zu sehen. Der Absolvent des London College of Fashion zeigt heute im Rahmen der Seoul Fashion Week seine „Maxxi J“-Kollektion für den kommenden Winter. Es geht vorbei an diensteifrig grüßenden Ordnern, die in die große Halle A2 weisen. Jin Teok nimmt in der ersten Reihe Platz, schlägt die Beine übereinander und blickt erwartungsvoll zum Catwalk. Dass diese Dame 85 Jahre alt sein soll, ist schwer zu glauben. Ihre Körperhaltung ist die einer Ballerina, anmutig, elegant. Die runde Spiegelbrille, die cremeweiß lackierten Fingernägel und die Adidas-„Gazelle“-Sneakers sind Zeugen einer Coolness, die kein Alter kennt. Modejünger umtanzen sie wie eine Bienenkönigin.
Unter Trendscouts ist die halbjährlich stattfindende Seoul Fashion Week inzwischen ein fester Termin. Südkorea gilt als aufstrebende Modenation, junge Koreaner begeistern sich nicht nur für einheimische Boygroups und K-Popstars – Stichwort Gangnam Style –, sondern auch für lokale Designer. Auf der Seoul Fashion Week werden an fünf Tagen knapp fünfzig Kollektionen gezeigt, das Spektrum reicht vom südkoreanischen Newcomer bis hin zu internationalen Marken. Die Eintrittskarten für die Schauen sind heiß begehrt, doch auch wer keine ergattert, ist nicht ganz außen vor. Denn draußen, vor den Türen der drei Show-Locations, ist nicht weniger Mode zu sehen als drinnen. Die geschwungene Rampe des Dongdaemun Design Plaza, kurz DDP, ist der „Walk of Fame“ – wie geschaffen für das kollektive Schaulaufen der Seouler Fashionistas.
Zuletzt war Jin Teok 2017 mit ihrer Kollektion bei den Defilees dabei, eröffnete den Modereigen mit ihrer Show, nun genießt sie ihre Rolle als Zaungast. Als Gründerin der Seoul Fashion Association und deren erste Präsidentin von 1989 bis 1994 legte sie vor genau 30 Jahren den Grundstein für das inzwischen weltweit als Sprungbrett bekannte Modeevent. „Ich bin so stolz, als wären es meine eigenen Kinder, die hier zeigen“, lächelt sie. Einen Favoriten? Jin winkt ab. Wie eine liebende Mutter würde sie keine Kollektion öffentlich einer anderen vorziehen. Labels wie Pushbutton und Beyond Closet debütierten auf der Seoul Fashion Week und sind inzwischen koreanische Exportschlager. Und die Veranstalter wissen, wie man den Ball in der Luft hält: „Next Generation“ heißt das Förderprogramm, über das stetig frisches Blut in die Adern der Fashion Week gepumpt wird.
„Es war das Hemd meines Bruders, das mich zur Mode führte“, erinnert sich die gebürtige Nordkoreanerin am nächsten Tag in ihrem Büro in der lichtdurchfluteten dritten Etage ihres Headquarters im geschäftigen Gangnam-gu. Jin Teok nimmt einen Schluck von ihrem grünen Tee mit Reisaroma. „Wir waren im Koreakrieg geflohen und lebten in sehr einfachen Verhältnissen auf Jeju-do, einer kleinen Vulkaninsel im Süden. Eines Tages, ich war 16 Jahre alt, fiel mir das weiße Hemd auf, das vor dem Fenster in der Sonne flatterte. Und, wie soll ich es beschreiben? Ich verliebte mich! In das Kleidungsstück, in den Stoff, durch den das Sonnenlicht fiel. An diesem Tag beschloss ich, Designerin zu werden.“ Manches Mal schon wurde Jin Teok mit Coco Chanel verglichen. „Coco liebte das kleine Schwarze – ich favorisiere die weiße Bluse“, lacht sie. Die Koreanerin ist dafür bekannt, dieses Kleidungsstück immer und immer wieder neu zu erfinden und dafür historische Verarbeitungstechniken mit modernen Schnitten zu fusionieren. Tradition trifft Moderne – wie bei Coco Chanel. Allerdings soll diese dem Wesen nach recht forsch gewesen sein. Jin hingegen wirkt zurückhaltend, sie verliert nicht viele Worte, lässt lieber ihre Kleider sprechen. Fragen, die ihre private Vergangenheit betreffen, beantwortet sie nur ungern. Nur wenn es um ihre zweite Heimat Jeju geht, gerät sie ins Reden, mit einer Sprachmelodie, die an ein munter fließendes Bächlein erinnert. „Die Insel ist mein Refugium, ein poetischer Ort, ein ewiger Quell der Inspiration. Die Farben der Natur, das besondere Licht, wie der Wind dort durch das Korn fährt – all das verzaubert mich immer wieder aufs Neue. Ich versuche, so oft wie möglich ein paar ruhige Tage dort zu verbringen.“
Die bekannte Modekritikerin Suzy Menkes beschrieb den Stil der Koreanerin einmal so: „Jin Teoks Kreationen sind wie Gedichte. Sie erzählen aus ihrer Seele, manchmal mit einem Flüstern, beizeiten mit einem Ruf, aber immer mit Anmut.“ Nachzulesen ist das in einem großformatigen Bildband, der 2015 anlässlich Jin Teoks 50. Arbeitsjubiläum erschien. Damals zeigte die Designerin in einer Ausstellung parallel zur Seoul Fashion Week einen Querschnitt ihrer Kreationen: bestickte Seidenwesten, Blusen mit üppigen Faltenärmeln, krinolinenartige Röcke. Silhouetten, die an die traditionelle koreanische Tracht Hanbok erinnerten, Verarbeitungsdetails, die den kostbaren Gewändern der königlichen Joseon-Dynastie entlehnt waren. Ergänzend dazu: multiple Layerings, die wie skulpturale Materialstudien und Experimente zur Formfindung wirkten, und dekonstruierte Schnitte, die entfernt an Yohji Yamamoto erinnerten. „Es geht mir immer darum, Sehgewohnheiten zu brechen, Kontraste zu schaffen“, sagt Jin Teok, die persönlich am liebsten Kombinationen in Cremeweiß und Schwarz trägt. Das wiederum hat sie mit Coco gemein.
Heute besucht auch Andreas Murkudis das Headquarter der Designerin südlich des Han-Flusses, in dem das Herz von Jins Kollektion schlägt. Im Erdgeschoss befindet sich der eigene Laden, in den Etagen darüber und darunter wird an neuen Entwürfen gefeilt. Der Berliner Einzelhändler gilt in der Branche als Stilpapst, seine drei Ladenlokale an der Potsdamer Straße als erste Adresse des guten Geschmacks. Murkudis ruht sich nicht auf großen, bekannten Namen aus, er ist der Kolumbus der High-Fashion-Szene und immer wieder auf Entdeckungssreisen unterwegs. „Ich bin 2016 auf Jin gestoßen, als ich auf der Suche nach neuen Marken zur Seoul Fashion Week kam,“ erzählt Murkudis. „Ich hatte ihr Defilee gesehen – sehr progressiv, wie ich fand. Allerdings kam danach nicht wie erwartet ein blutjunger Designer auf den Catwalk, sondern eben sie!“ Jin wirft ihm ob des Kompliments einen geschmeichelten Blick zu. 82 war sie damals.
Der Ruhm, er klopfte erst in der zweiten Lebenshälfte an ihre Tür. Zwar hatte Jin Teok 1965 bereits ihre erste eigene Kollektion lanciert, aber erst in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern nahm ihre Karriere richtig Fahrt auf. „1988 wurde ich gebeten, die Uniformen des südkoreanischen Teams für die Olympischen Winterspiele zu entwerfen. Eine große Ehre.“ Es sollte aber noch fünf Jahre dauern, bis man in Paris auf sie aufmerksam wurde. 1993 flatterte eine Einladung des Chambre Syndicale de la Couture ins Haus, an der Paris Fashion Week teilzunehmen. Vier Jahre zeigte die Modeschöpferin an der Seine, dann kam die Asienkrise und Teok konnte sich den Aufwand nicht mehr leisten. In Vergessenheit geriet sie dennoch nicht: In den Jahren rund um ihr 50. Arbeitsjubiläum würdigten Ausstellungen Seoul, Paris und San Francisco ihre Kreationen.
Murkudis, grau meliert und in lässigen Sneakers unterwegs, hat fünfzehn Jahre als Kurator gearbeitet. Im September möchte auch er die Entwürfe der Modeschöpferin in einer Ausstellung zeigen, die handwerklich aufwändig gefertigten Couture-Teile ebenso wie Auszüge der aktuellen Prêt-à-porter, die unten in Jin Teoks Flagship-Store hängt. Andreas hat schon Yohji Yamamoto und Dries Van Noten nach Berlin geholt, mit ihnen vielbeachtete Ausstellungen und Schauen veranstaltet. „Etwa zwanzig Outfits, in drei Gruppen zusammengestellt“, überlegt der 55-Jährige gerade, „das könnte passen“. Sein Geschäft in den Räumlichkeiten der ehemaligen Druckerei des Tagesspiegels hat großzügige 1000 Quadratmeter, allein 200 Quadratmeter davon wird die Ausstellung bekommen. „Was meinst du, Jin?“ Die Designerin nickt. Die beiden beugen sich gemeinsam über den Bildband zu ihrem 50. Arbeitsjubiläum, der die spektakulärsten Haute-Couture-Entwürfe zeigt. Sie sind auf einer Wellenlänge. Schnell ist man sich einig, was mit nach Berlin reisen soll.
Die rote Seidenschürze, mit den aufwändigen Handstickereien zum Beispiel, die Jin Teok jetzt an einer Puppe drapiert. „Diese Blüten sind ein altes koreanisches Muster und stehen für Fruchtbarkeit. Hunderte Stunden hat die Stickerei in Anspruch genommen. Nur sehr wenige Frauen beherrschen noch diese traditionelle Technik“, erläutert sie. Unbezahlbar und daher nicht verkäuflich, solch ein Stück, nur zwei wurden je produziert. Anders verhält es sich mit dem hellgrauen Sweatshirt mit den überlangen Ärmeln und den Strasssteinen, das unten im Schaufenster gezeigt wird und ebenfalls in die Ausstellung wandern soll. Es wird in Serie gefertigt, in einem südkoreanischen Produktionsbetrieb. Die Schnitte und Muster entstehen hier im Haus. Das Sweatshirt gehört zur neue Frühjahr-Sommerware, die Jin Teok parallel zur Seoul Fashion Week in ihrem Laden präsentiert: Weite, hochgeschnittene Lacklederhosen in Beige und Schwarz, pastellfarbene Wollmäntel und Blazer und natürlich die obligatorischen weißen Blusen.
Und ihre weiteren Pläne? Da gibt sich die Designerin geheimnisvoll. „Carpe diem“, sagt sie. Das ist ihre Philosophie, die sie mit Konsequenz und Disziplin verfolgt. Den morgigen Tag wird sie beispielsweise nutzen, um sich zu einer persönlichen Anprobe mit der First Lady Kim Jung-sook im Blauen Haus, dem Sitz des Staatspräsidenten, zu treffen. An den Wochenenden stehen regelmäßig zwei vierstündige Sporteinheiten auf dem Programm, inklusive 1500 Meter schwimmen. Die Langstrecke ist also nicht nur im Modebiz Jin Teoks Spezialgebiet. Auch den weiten Weg nach Berlin scheut die Grande Dame nicht. Es wird ihr erster Besuch dort sein. Wer weiß, wann sich wieder die Gelegenheit bietet, die wiedervereinigte Stadt zu sehen, die in ungewisser Zukunft vielleicht einmal Vorbild sein kann für das eigene geteilte Land?
Lufthansa Woman’s World
Ausgabe 2/2019