Mary Beard, die britische Philologin und Autorin des Buches „Frauen und Macht“, forderte ihre Zuhörerschaft bei einem Vortrag zu einem Gedankenexperiment auf: „Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich Macht vor. Wie sieht sie aus?“ Den meisten fiel es schwer, in dieser Fantasie eine Frau heraufzubeschwören. Noch immer ist das kulturelle Stereotyp zu stark, noch immer werden Wissen, Kompetenz und Autorität unbewusst mit dem männlichen Geschlecht verknüpft.
Werden wir gefragt, wie weibliche Macht aussieht, entsteht kein klares Bild vor unserem geistigen Auge. Noch gibt es keinen Dresscode, der sie symbolisiert, ohne männliche Attribute zu kopieren. Die in der Power-Dressing-Ära der 70er Jahre geborenen Hosenanzüge, die Angela Merkel und Hillary Clinton, bevorzugen, sind ja eigentlich nur ein Vehikel, eine Taktik, um das Weibliche männlicher wirken zu lassen.
Eine allzu menschliche Reaktion auf die nach wie vor männliche Prädominanz in Machtpositionen. Doch brauchen wir diesen Code wirklich? Bringt es uns Frauen auf dem Weg zur Gendergerechtigkeit tatsächlich weiter, männliche Verhaltensweisen nachzuahmen? Das Gegenteil könnte der Fall sein. Immerhin schlummert in gewissen Symbolen, die Frauen traditionell als schönes statt als starkes Geschlecht ausweisen, das Potenzial, zu Insignien weiblicher Macht zu werden. Margret Thatcher gelang es beispielsweise, die Handtasche, das stereotypischste aller weiblichen Accessoires, mit neuer Bedeutung aufzuladen. Mit dem Ausdruck ‚to handbag‘ geht eine Wortneuschöpfung auf die Thatcher-Ära zurück, die ihrerzeit für rücksichtslose politische Machtausübung stand.
Wenn Frauen nicht stereotyp innerhalb der Machtstrukturen wahrgenommen werden wollen, die einst von Männern etabliert wurden, sollte dann nicht das Wesen der Macht, und insbesondere der weiblichen Macht, neu definiert und gedacht werden? Als etwas Gemeinschaftliches beispielsweise, nicht als die Macht einzelner, sondern als die Ermächtigung vieler. Nicht als ein Besitz, der den Mächtigen persönliche Vorteile verschafft. Die Gründerin der Fridays-for-Future-Bewegung Greta Thunberg geht mit leuchtendem Beispiel voran. Auch Black Lives Matter, eine der einflussreichsten Bewegungen der letzten Jahre, wurde von drei Frauen begründet: Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi. Nur wenige kennen ihre Namen, aber gemeinsam besaßen sie die Macht, die Dinge ins Rollen zu bringen.
Es gibt sie, die weiblichen Role Models. Der entsprechende Powerlook kommt von Designerinnen wie Phoebe Philo, die Céline mit intelligentem Minimalismus in eine neue Umlaufbahn katapultierte. Von Clare Waight Keller, die bis vor Kurzem als erste Frau bei Givenchy die Feder führte und die Eleganz des Pariser Modehauses in die Gegenwart und Realität überführte. Von Stella McCartney, deren konsequent nachhaltige Kollektionen Zeichen in Sachen Tier- und Umweltschutz setzen, Maria Grazia Chiuri, die ihre Dior-Mode in politischen Kontext stellt und Weiblichkeit mit ihren teils androgynen, teils poetischen Entwürfen neu interpretiert, und Natacha Ramsay-Levi, die bei Chloé feministische Botschaften absetzt.
Macht kann auch bedeuten, Reglements aufzubrechen, auf den eigenen Stil zu vertrauen, nicht mehr der Form, sondern dem Inhalt der Mode den Vortritt zu lassen, Statussymbole neu zu verhandeln. Und: Wenn wir ein neues Bild entwerfen, sollten wir dann nicht auch gleich die Männer der Macht vom über 100-jährigen Diktat der Uniform erlösen? Sie aus Doppelreihern mit Rosshaareinlagen herausschälen, befreien von engen Kragen und Krawatten? Das gäbe den Weg frei für eine Mode, die beiderlei Geschlecht von Konventionen entbindet, die Diversität feiert, Selbstreflexion spiegelt, Lebensfreude verkörpert, variantenreich, typ- und körpergerecht ist. Wenn die Macht in Zukunft auf vielen Schultern ruht, müssen diese Schultern nicht mehr so breit sein.
Konfekt No 1,
Dezember 2020