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Im Wunderland

Art & Culture / Travel

Olafur Eliasson, Doug Aitken, Matthew Barney, Dan Graham: Das Who’s who der internationalen Gegenwartskunst gibt sich im brasilianischen Nirgendwo ein Stelldichein. Mit dem Kunstkomplex Inhotim, einem riesigen tropischen Wunderland, verfolgt sein Gründer Bernardo Paz in der Provinz Minas Gerais seine Utopie von einem Paradies auf Erden. 

Dichter Tropenwald wechselt mit saftigem Weideland, dazwischen Palmen und die roten Dächer der kleinen Dörfer. In der Ferne grüßen grüne Hügel durch den Dunst, die orangerote Narben des Bergbaus tragen. Minas Gerais, übersetzt ‚Allgemeine Minen‘, ist ein Bundesstaat von der Größe Frankreichs im Südosten Brasiliens, der für seine Eisenerz- und Mineralvorkommen bekannt ist. 

Im Provinznest Brumadinho säumen winzige Expresssupermärkte, Tankstellen und aus der Zeit gefallene Modeläden die Straßen. In kleinen Imbissbuden trinken die Einheimischen nach Feierabend ihr Bier. Doch der verschlafene Ort gehört ihnen nicht mehr allein. In den letzten Jahren erschien er auf dem Radar der internationaler Kunstpilger. Der Grund? Das nahe gelegene Inhotim, der Kunstkomplex des schwerreichen Eisenerz-Magnaten Bernardo Paz. 

Verlässt man Brumadinho gen Norden entlang des Rio Paraopeba, teilt man sich die Avenida Inhotim zunächst mit Ehrfurcht gebietenden Zementlastern und weniger einschüchternden Pritschenwagen, aus deren Boxen tiefe Bässe wummern. Nach etwa zehn Minuten zweigt eine mit Naturstein gepflasterte Straße rechts ab – und der Verkehrslärm weicht Vogelgezwitscher. Noch anderthalb Kilometer, dann ist die Oase erreicht.

Inhotim, gesprochen In-yo-cheem, beeindruckt bereits auf den ersten Blick mit einem: den Gärten. Kurz hinter dem Eingang wartet eine Anpflanzung aus Palmen in allen Grünschattierungen, ein Chlorophyllfeuerwerk vor einer Wand aus Eukalyptus. 1400 verschiedene Palmenarten sind auf der Anlage zu bestaunen, das ist der erste Superlativ des an Superlativen nicht armen Inhotim. Wenige Schritte vom Eingang entfernt verbinden geschorene Rasenflächen türkis schimmernde Teiche, deren Wasser künstlich eingefärbt wurde, um das typische Eisenrot der Gegend zu überdecken. Auf ihnen gleiten Schwäne dahin wie in einem surrealen Traum. 

Üppige 140 Hektar umfasst das Gelände, in dem man sich leicht verlaufen kann und das Fußfaule daher gerne mit dem Golfcaddy erkunden, insbesondere diejenigen, die keines der Schlüsselwerke verpassen möchten. Auf einer Anhöhe wartet eines davon: Olafur Eliassons ‚Viewing Machine‘ – ein riesiges schwenkbares Spiegelkaleidoskop aus blank geputztem Stahl, das die Landschaft, die es umgibt, hundertfach bricht und den Eindruck des Surrealen weiter verstärkt. Es wurde von dem berühmten Dänen speziell für Inhotim geschaffen. Das gilt für zahlreiche der monumentalen Werke, die hier großzügig in die Landschaft gestreut sind. Für vieles wurde ein eigener Pavillon errichtet, 21 sind es insgesamt auf dem Gelände. Jedem Kunstwerk werden Raum und Mittel gegeben, im Dialog mit der Umgebung sein eigenes Miniuniversum zu kreieren. 

So verhält es sich auch bei der Kunst von Claudia Andujar. In einem eingeschossigen Ziegelbau, der teilweise auf Stelzen schwebt, sind Arbeiten der brasilianischen Fotografin ausgestellt. Sie porträtieren das Leben der Yanomami, einer indigenen Gruppe im Amazonasgebiet. Durch die Umarmung von Architektur und Natur übersetzt der Bau eine Vision des friedfertigen Zusammenlebens verschiedener Ethnien, wie Andujar sie auch in ihren Fotografien transportiert. 

Damit verglichen ist der ‚Sonic Pavillion‘ von Doug Aitken von überschaubarer Größe. Es ist ein rundes Gebäude aus Milchglas auf einer felsigen Anhöhe und seine Kraft liegt in der Tiefe. Im Innern befindet sich nichts – bis auf ein kleines Loch im Boden, in Wahrheit ein Schacht von 200 Metern Tiefe, in den hochempfindliche Mikrofone herabgelassen wurden. Sie tragen die Geräusche aus im Erdinnern in den Pavillon hinauf. Ein Brummeln, eine bassige Vibration – man kann zuhören, wie sich der Boden bewegt. Der Bergbau in Minas Gerais lässt grüßen.

Inhotim ist die Utopie eines Bergbaukönig, eines einflussreichen Mannes, der von einem Paradies auf Erden träumt. Ein kultureller Garten Eden, in dem nicht nur Kunst in großem Maßstab gezeigt wird, sondern auch selten gewordene Tier- und sage und schreibe 4300 Pflanzenarten. „Inhotim ist kein Museum, es ist eine Lebensphilosophie“, erklärt Gründer Bernardo Paz in einem Interview. „Ein Platz, wie wir uns die Zukunft vorstellen.“ Bilder zeigen ihn exzentrisch, mit langer weißer Mähne, die wie eine wilde Wolke sein Haupt umgibt. Kritiker bemängeln, der 72-Jährige besitze keine Glaubwürdigkeit als Botschafter für grüne Weltverbesserungsfantasien. Schließlich sei sein Reichtum auf Erz und Stahl gegründet. Nicht nur das: 2017 wurden Paz und seine Schwester zu neun Jahren Haft wegen Veruntreuung von Geldern verurteilt, 2020 wurde das Urteil allerdings in einem Revisionsverfahren aufgehoben. Gerade zur rechten Zeit – in diesem Jahr feiert Inhotim seinen 15. Geburtstag. Was 2006 als private Kunstsammlung auf Paz‘ früherem Landsitz begann, hat sich zu einer Kultureinrichtung entwickelt, die Millionen Besucher jährlich anzieht. Mittlerweile werden Mehrtagestickets angeboten, denn ein Tag reicht längst nicht mehr aus, um die exquisite, zurzeit über 700 Werke umfassende Sammlung von Künstlern aus 40 Nationen, zu erkunden. 

Zugutehalten kann man Paz, dass er die Widersprüche seiner Biografie zulässt. So hat er mit ‚Beam Drop Inhotim‘ des Amerikaners Chris Burden ein Werk in seinen Kunstpark integriert, dessen 71 rostige Stahlträger, die einst von einem 45 Meter hohen Kran auf ein nasses Kissen aus Zement fallengelassen wurden, das Konzept des Bergbaus als Raubbau explizit hinterfragen. Diesem Totem der Industriekultur wurde einer der prominentesten Plätze einräumt – es wurde auf der höchsten Erhöhung errichtet. Und es bleibt mit seiner Kritik an der Naturzerstörung durch den Menschen nicht allein: In einem geodätischen Kuppelbau entbirgt sich hinter der Gitterschale aus Dreiecken ein schlammverkrusteter Bagger, dessen Schaufel einen Baum und dessen Wurzeln der Erde entrissen hat. Schöpfer der Szenerie: der US-Amerikaner Matthew Barney.

Natur ist im Inhotim nicht Staffage, nicht schöner Hintergrund, sondern Partner der Kunst. Zwar beugt sie sich in dieser Mischung aus Kunstparadies und Landschaftsgarten dem Willen des Menschen, doch ihre Energie bleibt weiterhin sichtbar. Die Gestaltung des Gartens ist von Roberto Burle Marx beeinflusst, dem verstorbenen Meister der Landschaftsarchitektur und einstigem Freund von Bernardo Paz. ‚Malen mit Pflanzen‘ war die Maxime von Marx, dem es darum ging, nie alles gleichzeitig zu offenbaren, sondern die Reize nach und nach zu enthüllen. Und so steht hinter Inhotim auch die Grundidee, sich freizumachen von all den Absichten und Zwängen des beschleunigten Metropolenlebens, Heilung vom Großstadtstress zu erfahren durch die Schönheit, die da wächst und blüht. Irgendwo im Nirgendwo, zwischen grünen Bäumen, roter Erde und blauem Himmel.

The Weekender,
Januar 2021