Eine Generation von jungen Balten verwandelt immer mehr alte Gutshöfe in exklusive Unterkünfte. In einem weitläufigen Sumpf- und Moorgebiet südlich von Tallinn trifft estnische Adelsgeschichte auf abgeschiedenes Naturerleben.
Frisch gesäubert und abmarschbereit stehen sie im Eingangsbereich des früheren Bedienstetenhauses: eine Batterie olivfarbener Gummistiefel, von Größe 36 bis 44, die geduldig auf die Gäste des Maidla Nature Resorts warten. Doch hoffentlich keine Propheten eines herannahenden Tiefdruckgebietes? Tatsächlich verdunkelt sich der November-Himmel gerade. Marleen Müts, die uns die Tür des kleinen, zweistöckigen Hauses geöffnet hat, lacht, als sie unsere besorgten Blicke bemerkt, und schiebt uns zwei Paar graue Filzpantoffeln hin. „Kommt erst einmal herein!“, sagt die junge Estin und wir folgen ihrem wippenden blonden Pferdeschwanz ins Nebenzimmer, das als Rezeption des Mikro-Resorts und als dessen Kaffee-Bar dient.
Das Maidla Nature Resort, 50 Kilometer südlich der estnischen Hauptstadt Tallinn, wurde 2019 von dem jungen Tech-Unternehmer Ragnar Sass erworben und ist ein schönes Beispiel für die Bemühungen einer jungen Generation von Balten, die geschichtsträchtigen Bauten des Landes zu erhalten und sie wiederzubeleben. Das alte Gutshaus befindet sich teils noch im Originalzustand und scheint im Dornröschenschlaf zu liegen, während die drei benachbarten naturnahen Luxusunterkünfte den Gästen bereits heute absolute Abgeschiedenheit versprechen.
Tatsächlich fühlen wir uns nach der Fahrt durch dünn besiedelte Wald- und Moorlandschaft schon mitten im Nirgendwo: Das nächste Dorf ist fünf Kilometer entfernt und heißt Juuru, 400 Seelen wohnen dort. Marleen Müts reicht Pfefferminztee über die Theke und führt uns in den Gastraum, in dem das Frühstück und das Abendessen für die Gäste des Maidla Nature Resorts serviert werden. Runde, dunkel gebeizte Tische aus den 1930er Jahren finden sich hier, aus der Zeit, als Estland schon einmal eine unabhängige Republik war, bevor es 1940 von der Sowjetunion annektiert und erst 1991 im Rahmen der Perestroika erneut zum eigenständigen Staat wurde. Dazu passende Stühle, ein Grammofon, verschnörkelte Kerzenleuchter aus Messing. Platz für etwa zehn Gäste bietet das Zimmer. Ein Ort wie aus der Zeit gefallen.
Wir sinken auf die gepolsterten Stühle und stärken uns mit einer Scheibe des duftenden, noch lauwarmen Sauerteigbrotes, das die Gastgeberin zusammen mit einem köstlichen Erbsen-Estragon-Dill-Aufstrich auf den Tisch gestellt hat. Vor dem Fenster steht ein alter Apfelbaum, die Blätter hat er jetzt, im Herbst, schon abgeschüttelt. Dahinter der herrschaftliche Gutshof, ein symmetrischer klassizistischer Bau mit einem Säulenportal und zwei Kapellen mit Kuppeldächern an seinen Flanken: Gut Maidla, eine schlafende Schönheit, die dem Resort seinen Namen gibt. „Estland gilt als das Land der tausend Gutshöfe“, erklärt Marleen Müts, als wir später über die feuchte Wiese in Richtung des Haupthauses stapfen. „Diese Gutshöfe waren jahrhundertelang Dreh- und Angelpunkte der estnischen Gesellschaft. Zu jedem Anwesen gehörten große Ländereien und Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäude. Meist ein Getreidespeicher und ein Pferdestall, dazu eine Wodkabrennerei, eine Bierbrauerei und ein Viehstall. Gebäude also, die sowohl für wirtschaftliche Zwecke als auch für gesellschaftliche Zusammenkünfte genutzt wurden.“
Müts dreht den Schlüssel in der doppelflügeligen Eingangstür. „Gut Maidla wurde ursprünglich als Festungsbau errichtet, das Gründungsdatum ist unbekannt. Die früheste Erwähnung des Gutshofs stammt aus dem Jahr 1452.“ Wir treten über die Schwelle in die Vorhalle, von der aus eine Treppe in den ersten Stock führt. Rechts: ein zwei Meter hoher brauner Kachelofen, daneben: die Tür zum großen Saal, dessen Sprossenfenster zum rückwärtigen Weiher hinausgehen. Die zartrosa Farbe an Wänden und Decke blättert in handtellergroßen Stücken ab, die großen runden Lüster und die Wandleuchten sind nicht mehr intakt. Dennoch entfaltet der Saal eine unmittelbare Magie. Ein rostrotes Sofa und zwei wuchtige Sessel, die sich um einen runden Tisch gruppieren, vermitteln Wohnlichkeit, und angesichts der Insignien einstiger Pracht wie der Holzvertäfelung und den noch zu erahnenden Wandverzierungen erwacht vor dem geistigen Auge die Vorstellung rauschender Feste. Fast meinen wir die bodenlange Taftröcke feiner Damen über das Intarsien-Parkett fegen zu hören.
„Viele Grundherren aus verschiedenen Adelsfamilien haben im Laufe der Jahrhunderte über Gut Maidla und die dazugehörigen Ländereien geherrscht. Meist waren es deutsche und schwedische Adlige, denen die Landgüter gehörten“, holt uns Marleen Müts in die Realität zurück – um gleich wieder unsere Fantasie zu beflügeln. „Ein Anwesen mit einer so langen Geschichte birgt natürlich seine eigenen Legenden und Geheimnisse. Die Einheimischen erzählen sich, dass unter dem Teich ein Tunnel verläuft, der das Hauptgebäude des Herrenhauses mit der Wodkabrennerei verbindet. Den jedoch haben wir bis jetzt vergebens gesucht. Dafür haben wir im Kellergeschoss einen Raum gefunden, der auf keiner historischen Karte verzeichnet ist und zu dem es von keinem der anderen Kellerräume aus einen Zugang gibt. Äußerst mysteriös.“
Nein, gerade möchten wir diesen Raum ehrlich gesagt nicht besichtigen, der Nachmittag neigt sich dem Ende zu und das Licht wird schon schwächer. „Ja, richtig, man erzählt sich auch Geistergeschichten“, schmunzelt die junge Estin, als wir ihr auf dem Rundgang durch das Erdgeschoss weiter über das knarrende Parkett folgen. Dass wir lieber in den oberirdischen Etagen bleiben, verzeiht sie uns. In einem der Räume wurden unter einem halben Dutzend Farbschichten Wandmalereien freigelegt. Sie zeigen einen der Gutsbesitzer und seine Gemahlin nebst einigen hübschen Rosenranken. Im Herrenzimmer ist eine opulente Kassettendecke erhalten. Im ersten Stockwerk des Gebäudes ist die einstige Opulenz weniger präsent. In den Jahren der Sowjetherrschaft wurde das Anwesen als Waisenhaus genutzt und entsprechend funktional umgestaltet. „An Denkmalschutz hat damals niemand gedacht“, erklärt Müts mit bedauerndem Kopfschütteln. In Estland haben ein paar hundert solcher Gutshöfe die Jahrhunderte überlebt, einige wurden restauriert. „Unser Ziel ist es, das Herrenhaus behutsam zu renovieren, so dass seine Geschichte sichtbar bleibt. Eines Tages soll aus dem Gutshof ein Hotel werden. Finanziert werden soll der Umbau auch mit den Einkünften aus den Naturvillen des Maidla Resorts.“
Wer hinter der Idee steckt, diesen Lost Place vor dem Verfall zu bewahren, erzählt uns später Susanne Org. Sie ist aus Tallinn angereist. Als rechte Hand des Besitzers und Managerin des Resorts hat sie die aufwendige Rettungsaktion von der ersten Stunde an begleitet. „Ragnar Sass ist ein Vielreisender, der seine Vorstellungen von einem Resort, in dem die Gäste die einzigartige estnische Naturschönheit erleben können, hier umsetzen möchte“, erklärte Org. Ragnar Sass kaufte den Maidla-Manor-Komplex und 25 Hektar des ihn umgebenden Landes. Aus den heute drei Naturvillen unweit des Gutshauses sollen zukünftig einmal acht werden. Architektonisch sehr unterschiedlich konzipiert bieten die bereits errichteten Häuser jeweils Platz für zwei Personen. Mal ist es ein Kamin am Fußende des Bettes, mal eine Sauna mit Blick in den Wald, mal ein Jacuzzi auf der Holzveranda, der den drei Unterkünften den besonderen Luxus verleiht. Was alle eint: Stets schläft man in inmitten von Birkenhainen und Sumpfland – die Naturvillen sind ausschließlich über Holzstege erreichbar und eröffnen ein unmittelbares Naturerleben.
Der Abend bricht früh herein. Nach einem Fünf-Gänge-Menü, zubereitet von Darius Aas, der im resorteigenen Restaurant Soo die Aromen der Umgebung virtuos auf den Teller bringt, schlüpfen wir in unsere Betten in einer der Naturvillen. Stille und Dunkelheit umfängt uns, nur das Holz im Kamin zu unseren Füßen knackt leise. Morgen steht eine mehrstündige Wanderung im nahegelegenen Moor an, dann werden uns die Gummistiefel aus dem Bedienstetenhaus willkommene Begleiter sein.
Salon,
Herbst 2023