Sie wurden gerade zur besten Köchin der Welt gekürt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Ich freue mich sehr, diesen Preis mit den vielen Menschen zu teilen, die über all die Jahre schon mit mir arbeiten. Es gibt uns Energie und motiviert uns, weiterzumachen.
Wie würden Sie Ihre Philosophie und die Küche im Rosetta beschreiben?
Wir versuchen, unseren Gästen spezielle Momente zu schenken, in einer entspannten, einladenden Atmosphäre exzellentes, aufregendes Essen zu servieren, das man nicht so schnell vergisst – indem wir die mexikanische Biodiversität feiern und die vielen mexikanischen Aromen.
Ihre Heimat Mexiko spielt eine große Rolle in Ihrer Küche.
Meine Gerichte basieren auf traditionellen und vor allem saisonalen Zutaten. Im Moment ist zum Beispiel Regenzeit und ich koche viel mit Quelites, das ist der mexikanische Begriff für Wildkräuter. Je nach Region und Jahreszeit gibt es viele Arten von Quelites. Epazote gehört zu jenen Wildkräutern, die am häufigsten vorkommen. Es wird traditionell zum Würzen von Bohnen und Salsas verwendet – im Rosetta machen wir daraus ein aromatisches Püree, das wir für eine frische grüne Pasta verwenden. Es ist mir auch wichtig, mit Zutaten zu kochen, die in Mexiko fast in Vergessenheit geraten sind. Auf diese Weise können unsere Gäste nicht nur eine ungewöhnliche Erfahrung machen, sondern auch dazu beitragen, Pflanzen am Leben zu erhalten, deren Anbau vernachlässigt wird.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Kartoffeln wären so ein Beispiel. Wir haben nicht so viele Sorten wie Sie in Europa. Und manche drohen zu verschwinden. Die Chipsproduzenten nutzen nur eine einzige Sorte: eine besonders große, stärkehaltigen Kartoffel. Folglich werden die anderen, kleineren, wachsigeren, aber geschmackvolleren Kartoffeln von den Bauern kaum mehr angebaut, weil sie sich nicht so gut verkaufen.
Ist die Biodiversität in Mexiko größer als in anderen lateinamerikanischen Ländern?
Ja, weil das Land so groß und die Landschaft so vielfältig ist – denken Sie allein an die karibische und die pazifische Küste, die Wüsten und die Vulkane. Aus diesem Grund haben wir einen immensen Reichtum an Produkten. Es gibt eine Reihe von endemischen Gemüse- und Obstsorten, aber auch Kräuter, die nur hier wachsen. Wie zum Beispiel Hoja Santa, das Heilige Blatt, eines meiner Lieblingsgewürze, ein Kraut mit einem komplexen Geschmack von Pfeffer und Lakritz. Hoja Santa ist Teil unserer Kultur, und zwar nicht nur als Küchenkraut, sondern auch als schmerzlinderndes und entzündungshemmendes Mittel. In prähispanischer Zeit wurde es Getränken auf Kakaobasis zugesetzt – um sie zu aromatisieren, aber auch, um sich seine heilenden Eigenschaften zunutze zu machen. Im Rosetta lieben wir es, mit Hoja Santa zu experimentieren. In der einen oder anderen Form ist es eigentlich immer präsent. Eines unserer Signature-Gerichte ist das Dessert aus Hoja Santa und weißem Criollo-Kakao. Hierfür wird das Hoja Santa in Eiscreme verwandelt und mit einer Kakao-Ganache serviert, die aus einer ganz besonderen Kakaobohnen-Auswahl hergestellt wird. Sie stammt exklusiv aus Tabasco, einem Bundesstaat im Südosten Mexikos. Garniert wird das Ganze mit einem Hoja-Santa-Blatt im Zuckermantel für eine knusprige Textur und schöne Optik. Ein anderes Beispiel sind die rosa Pinienkerne. Es handelt sich um eine einzigartige Pinienkernsorte, deren Schale eine intensive rosa Farbe hat. Wir kreieren damit eines unserer typischen Desserts, in Kombination mit Pixtle, einer ebenfalls urmexikanischen Frucht aus der präspanischen Zeit, und Meringue, einer Art von Baiser. Dann haben wir noch den Huitlacoche, einen Pilz, der auf unseren Feldern rund um den Mais wächst und traditionell in Quesadillas und Rührei zum Frühstück gegessen wird. Im Rosetta kommt er in vielen Gerichten zum Einsatz, zum Beispiel als Begleitung zu Gnocchi.
Wo kaufen Sie Ihre Zutaten ein?
Wir kaufen hauptsächlich bei kleinen Erzeugern. Einer von ihnen ist in Las Chinampas ansässig, einem Ort im Süden von Mexico-City. Dort, auf heutigem Stadtgebiet, befand sich früher ein großer See, deshalb gibt es hier bis heute so viele Kanäle und Inseln. Diese Inseln werden Chinampas genannt – hier wird das meiste Gemüse angebaut, das wir im Rosetta verwenden. Der Schlamm aus den Kanälen sorgt dafür, dass das Gemüse besonders viele Nährstoffe enthält und auch reich an Geschmack ist. Andere Lieferanten produzieren ebenfalls in oder um Mexico-City. Interessant daran ist, dass es trotz der Nähe zur Stadt unterschiedliche Mikroklimas gibt. Mexico-City liegt auf einer Höhe von über 2000 Metern, die Sonneneinstrahlung und die Nähe zu den Vulkanen spielen eine große Rolle.
Sie sind bekannt für Ihre experimentelle Küche.
Meist sind es die Texturen, die mich inspirieren. Oftmals ist es auch die Herkunft der Produkte. Denn tatsächlich lässt sich feststellen, dass Nahrungsmittel, die in unmittelbarer Nähe zueinander gedeihen, auch in einem Gericht miteinander harmonieren. Die Natur eröffnet uns so viele Möglichkeiten, und ich spiele gerne mit ihnen. Als ich zum Beispiel zum ersten Mal auf einer Kakaoplantage war und entdeckte, dass dort auch Zimt, große Limonen und Hoja Santa wuchsen, dachte ich mir, dass diese Zutaten sich sicher wunderbar in einem Kakaogetränk verbinden lassen.
Sie haben das Kochen von Ihrer Mutter und Großmutter gelernt. Was hat Sie in Ihrer Kindheit besonders geprägt?
Meine Großmutter kochte tatsächlich den ganzen Tag. Es war ihre Art, sich uns zu schenken. Meine Mutter wiederum liebt es, die Familie und Freunde zusammenzubringen. Kochen ist ihr ein Mittel, um ihre Lieben um sich zu versammeln. Ich habe schon als Kind immer gerne in der Küche geholfen. Nicht, weil ich es musste, es machte mir einfach Spaß und mir wurde klar, was gemeinsames Essen bedeutet – ein Weg, um Zeit und Freude zu teilen.
Sie haben englische Literatur studiert. Was hat Sie bewogen, Köchin zu werden?
Nach der Schule habe ich englische Literatur studiert, aber nebenbei in Restaurants gekocht. Einmal kochte ich für die Crew am Set des ersten Films meines Bruders, des Regisseurs Carlos Reygadas. Dort wurde mein Essen sehr geschätzt – ab dem Moment wusste ich, dass ich Köchin werden will. An mein geisteswissenschaftliches Studium habe ich dann eine komprimierte Ausbildung am New Yorker French Culinary Institute angeschlossen.
Was machen Sie anders als andere Köchinnen und Köche?
Da ich keine jahrelange klassische Ausbildung in einer Kochschule absolviert habe, fühle ich mich freier. Ich koche nicht nach gelehrten Gesetzmäßigkeiten, habe keine Grenzen verinnerlicht.
Was ist Ihr wichtigstes Anliegen beim Kochen?
Zum einen möchte ich Momente der Erinnerung erschaffen. Ich liebe es beispielsweise, wenn sich am Tisch durch das Essen eine tolle Unterhaltung entspinnt. Was mir außerdem wichtig ist, ist ein respektvoller Umgang mit den Zutaten. Das bedeutet auch, das Produkt in den Mittelpunkt zu stellen und auf seine Qualitäten zu vertrauen, ohne den Geschmack zu stark zu manipulieren. Außerdem beschäftigt mich, wie meine Gerichte vom Körper aufgenommen werden. Mir ist wichtig, dass sich meine Gäste nicht nur während des Essens, sondern auch danach gut fühlen. Dass sie nicht müde werden, zum Beispiel.
Zu Ihren bekanntesten Kreationen gehören Kohl-Tacos mit Pistaziensauce. Was ist das Besondere an diesem Gericht?
Zunächst einmal sind es keine klassischen Tacos. Anstelle einer traditionellen Tortilla verwenden wir Kohl. Man kann ihn wie einen Taco in den Händen halten und seine knusprige Zubereitung bietet einen intensiven Geschmack. Dazu servieren wir Pipián, auch dies ein Rezept, das seinen Ursprung in der prähispanischen Zeit hat. Es ist eine sehr reichhaltige Sauce von der Konsistenz eines Pürees, die traditionell aus Kürbiskernen hergestellt wird – wir aber verwenden stattdessen Pistazien. Zu unseren Tacos gehören auch Quelites, die traditionell zu Weihnachten serviert werden: Romeritos. Ich glaube, dass klassische Zutaten, wenn sie in einem neuen Kontext auftauchen, oft besonders stark im Gedächtnis bleiben.
Die Einrichtung und Atmosphäre im Rosetta ist sehr harmonisch. Wer ist für das Interior Design des Rosetta verantwortlich?
Ehrlich gesagt, ist das etwas, um das ich mich gerne selbst kümmere. Eine anheimelnde Atmosphäre ist mir sehr wichtig und ich denke über jedes einzelne Detail nach. Die Keramik stammt von einer Freundin, Perla Valtierra, und für die Gläser arbeiten wir seit Jahren mit verschiedenen lokalen Kunsthandwerkern zusammen. Sie wenden die traditionelle Gravurtechnik „Grabado en pepita“ an, mit der Gläser mit charakteristischen Motiven wie kleinen Blättern, Blumen oder Sternen verziert werden.
In den Vorjahren wurden die Kolumbianerin Leonor Espinosa, die Peruanerin Pía León und die mexikanisch-stämmige Amerikanerin Daniela Soto-Innes als „Beste Köchinnen der Welt“ ausgezeichnet. Wie erklären Sie sich den großen Erfolg der lateinamerikanischen Köchinnen?
Nun, ich glaube, das ergibt sich zum einen aus der Historie. Lateinamerika hatte schon immer eine tolle Gastronomie. Hinzu kommt der Reichtum unserer Produkte, über den wir bereits sprachen.
Die Auszeichnung des „Best Female Chef“ ist nicht unumstritten. Einige finden, dass es keine eigene Kategorie für Köchinnen geben sollte. Wie sehen Sie das?
Ich hoffe, wir werden diese Kategorien eines Tages nicht mehr benötigen. Aber im Moment gibt sie den weiblichen Köchen mehr Aufmerksamkeit. Wenn Sie die Besten-Listen anschauen, dann sind immer sehr wenige Frauen vertreten. Das sollte sich ändern.
Wenn Elena Reygadas Freunde zu Besuch hat,
… übernachten sie im Roma-Viertel
… essen sie Birria-Tacos in der Colima- oder der Orizaba-Straße
… besuchen sie die Kurimanzutto-Galerie und den Showroom von Perla Valtierra
… fahren sie an einem sonnigen Tag zum Markt auf dem Xochimilco-See oder zum Museo del Cárcamo de Dolores
… und gehen an einem regnerischen Tag in das Museo de Antropologia e Historia
Salon,
Herbst 2023