Die Äste eines üppig wuchernden Strandflieders schirmen die dunkle Holztür des alten provenzalischen Mas ab. Die Spätsommersonne scheint durch die fedrigen Zweige hindurch und zaubert helle Punkte auf die rustikale Natursteinwand. Um den Busch schwirrt ein Empfangskomitee, bestehend aus Tausenden von Mücken. Dabei sind wir mit jemand anderem verabredet: dem französischen Modedesigner Eric Bergère, der seinen Wohn- und Arbeitsplatz vor den Toren der südfranzösischen Stadt Arles im August wohl oder übel mit den Insekten teilt.
Monsieur Bergère öffnet die schmale Tür. Er ist 58 Jahre alt und gross gewachsen. Sein dichtes Haar mit Seitenscheitel ist so gepflegt wie der graumelierte Bart. Der Designer trägt eine Hornbrille und ein blau-rotes Baumwollhemd aus seiner eigenen Kollektion – das ist unschwer an dem indisch inspirierten Mustermix zu erkennen, der typisch ist für Bergères jüngste Entwürfe.
Überschäumende Kreativität
Eine geräumige Diele dient als Wohnzimmer. Auf einem Radassier, wie die traditionellen Kanapees aus der Provence heissen, sind übergrosse, exotisch anmutende und reichbestickte Kissen drapiert. Daneben steht ein gusseiserner Ofen. In Glasvitrinen befinden sich kleine Kunstobjekte, Figuren, Schalen, Aschenbecher und allerlei Fundstücke, an der Wand hängt eine Sammlung von Kruzifixen. Eine bunt geflieste Treppe führt nach oben zu den Schlafräumen, rechter Hand ist das ebenerdige Designstudio, links geht es in die Küche. Sie ist der hellste Ort des Hauses, mit Sprossenfenstern und je einer Tür zum Hof und zum Garten. Die übrigen Räume öffnen sich fast alle nach Südosten und sind so vor dem Mistral geschützt, der durch den nordwestlich verlaufenden Korridor zwischen den Alpen und den Cevennen hindurchpfeift und unerbittlich kalt sein kann.
Diese überschäumende Kreativität war schon früh die Grundlage des Erfolges von Eric Bergère. Die Karriere des gebürtigen Nordfranzosen verlief rasant. Nach dem Abschluss seines Modedesignstudiums an der Pariser École supérieure des arts et techniques de la mode wurden die Talent-Scouts von Hermès auf den damals 19-jährigen Klassenbesten aufmerksam. Neun Jahre lang durfte der blutjunge Designer die Prêt-à-porter-Damenlinie des Hauses entwerfen, später wechselte er als Freelancer zu Lanvin und zum Label von Inès de la Fressange, dem ehemaligen Model. Bergère entpuppt sich als lebhafter Erzähler.
Immer wieder springt er auf, um aus dem Atelier ein Buch oder eine Zeitschrift zu holen, die seine Worte illustrieren. Denn in seinen Ausführungen geht es oft um Stimmungen, um Kunst und um Geschichte. Und doch ist in seiner Welt alles Form, Material und Farbe. «Die einzige berufliche Alternative zur Mode wäre vielleicht die Innenarchitektur gewesen. Ich arbeite gerne mit den Händen», sagt er und blickt auf die Holzstühle, die sich um den Tisch gruppieren. «Ein paar Möbelstücke zu streichen, ist für mich Entspannung pur.»
1989 lernt Bergère in Paris Mario Testino kennen und verliebt sich in den peruanischen Modefotografen. Die darauffolgenden zehn Jahre lebt das Paar in einem spektakulär eingerichteten, 200 Quadratmeter grossen Apartment im elegantesten Stadtteil der französischen Hauptstadt. Ihre schwülstigbourgeoise Luxuswohnung mit dem radikal schwarz gefärbten Boden und den dunklen Wänden ist die Attraktion in vielen Einrichtungsmagazinen – und ihre dort veranstalteten Diners gelten als legendär. «Für einen Besuch von Madonna mal eben das Esszimmer in Purpur streichen? Kein Problem!», erinnert sich Bergère an seine illustren Pariser Jahre.
Doch der Traum währte nicht ewig. Nach der Trennung des Paars kann keiner der beiden die teure Wohnung halten. 1999 werden die opulenten Möbel vom Pariser Auktionshaus Drouot versteigert. «Als ob ich schon das Zeitliche gesegnet hätte», sagt der Designer mit einem Augenzwinkern.
Fiestas und Stierkämpfe
Heute kann er darüber schmunzeln, damals konnte er es weniger. Auch die eigene Couture- Kollektion, die Bergère 1995 ins Leben gerufen hatte, stand vor dem Aus. «Ich befand mich in einer Phase des Umbruchs, als meine enge Freundin Françoise Lacroix mir vorschlug, nach Arles zu kommen», sagt er. Die Frau von Couturiers Christian Lacroix kannte Bergère von Hermès-Zeiten her. Sie war Modedirektorin in dem Luxushaus und hatte den Neuankömmling unter ihre Fittiche genommen. «Françoise und ich kennen uns seit 38 Jahren», sagt Eric. Eine kleine Ewigkeit. Ebenso lang währt auch schon seine Liebe zur Camargue, der Heimat der Familie Lacroix, die er in den letzten vier Jahrzehnten immer wieder besucht habe – auch wegen der Fiestas, der traditionellen Feste und Stierkämpfe, die er seit je so beeindruckend finde. Viel Überredungskunst musste die Freundin also nicht aufwenden.
Der Mas, das alte Gutshaus, hat mit dem herrschaftlichen Pariser Apartment wenig gemein, wie ein Blick auf die Magazinausschnitte von damals zeigt. Doch scheint es ganz offenbar ein Spiegel seiner Seele zu sein – der Seele eines Sammlers, eines Freigeists mit einem grossen Herz für kleine Dinge, der in jedem Objekt Einzigartigkeit entdeckt. Selbst ein Stück Treibholz kann bei Bergère grosse Begeisterung wecken. Einige Exemplare, die er auf seinen ausgedehnten Strandspaziergängen gesammelt hat, hängen über dem offenen Kamin im Wohnzimmer und sind zu einem Kreuz des Südens formiert.
Cowboys in der Camargue
Vis-à-vis des grossen Eisenbettes im ersten Stock befindet sich das Fenster, links und rechts davon stehen zwei offene Metallregale: die römisch-griechische Abteilung des Hauses. Büsten, Amphoren, Schalen und Teller, antik wirkende Werkzeuge und Steingut. «Nichts in diesem Regal hat mehr als fünf Euro gekostet. Es ist alles fake. Das, finde ich, passt ganz gut zu dem Geschichtskult, der in Arles betrieben wird», so Bergère. In der Camargue würden zwei Welten aufeinandertreffen: die antike, römische Hinterlassenschaft mit ihren Amphitheatern und Tempeln in Arles und in Nîmes und das raue Landleben der Region, das geprägt sei vom Klima und von den Tieren, den Stieren, den Pferden, den Flamingos: «Sogar Cowboys gibt es hier, die Camargue ist der wilde Süden Frankreichs.» Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich sein Einrichtungskonzept. Der Mas, den er seit 2010 bewohnt, ist sein privates Heimatmuseum. Denn obwohl der kreative Kopf aus Troyes stammt, einem Städtchen im Nordosten Frankreichs, fühlt er sich der Provence stark verbunden.
In seinem Studio dann stehen eine deckenhohe Bücherwand, ein Tisch mit bunten Stoffballen, und auf den Kleiderstangen rangeln Prototypen und Kollektionsteile um Platz. «Mae West, Katharine Hepburn und Georgia O’Keeffe sind meine Ikonen», erklärt Eric Bergère und findet im Handumdrehen Bildbände über die drei berühmten Frauen in dem Regal. Ihre Charaktere, selbstbewusst und unabhängig, gleichzeitig glamourös und burschikos, würden ihn bei seinen Entwürfen inspirieren. Seine Kollektion verkauft Bergère in der Innenstadt von Arles, wo er ein eigenes Geschäft betreibt. Wie auch sein Mas trägt dieses den Namen «Dou Bouchi», was im lokalen Dialekt so viel wie «Der Verrückte» bedeutet. Seit 2012 entwirft der Designer pro Saison rund zwanzig zeitlose Kaftan-Varianten für Frauen und einige Hemden und Hosen für Männer. Die Linie heisst «Eté Eternel» nach dem schier endlosen südfranzösischen Sommer, den er hier geniesst. In dieser Saison hat er die Modelle in traditionellen provenzalischen Mustern umgesetzt: «Ursprünglich kamen diese Stoffe aus den indischen Kolonien, daher auch die ornamentalen Paisley-Muster und die exotischen Blüten. Über die Jahrhunderte wurden sie Teil der hiesigen Trachten, und heute gelten die bedruckten Baumwollstoffe als typisch für diese Region.»
Wöchentlich in Paris
Eric Bergère liebt es, die verschiedenen Muster zu kombinieren, hat aber auch einige Unifarbene Kaftane für weniger Mutige im Programm. Produziert werden sie en France, genauer gesagt: im benachbarten Wintergarten, wo Erics Angestellter Quentin – 22 Jahre alt, ausrasierter Nacken, Bart und Adidas-Trainingshose – gerade die lange Seitennaht eines Leinenkleides schliesst. Doch bei aller Liebe zu der rauen Schönheit seiner neuen Heimat, so ganz kann Bergère nicht von Paris lassen.
Einmal pro Woche nimmt er von Nîmes aus den schnellen TGV und ist in drei Stunden in der Hauptstadt; noch immer arbeitet er als Berater und Freelancer, auch immer noch für seine Freundin Inès de la Fressange.
NZZ am Sonntag, Stil
16.4.2019