Zweihundert leere Geschäfte zählte Gale Brewer zuletzt. Und das allein auf dem Broadway. Die Bezirksbürgermeisterin von Manhattan ist mehr als beunruhigt. Auch die Maklerfirma Douglas Elliman stellte im Herbst 2018 fest: In Manhattan stehen 20 Prozent aller Ladenlokale leer.
Hohe Mieten, lange Laufzeiten der Verträge, der Bauboom, der Onlinehandel: Es gibt viele Faktoren, die dem Einzelhandel weltweit zu schaffen machen, nicht nur in New York. Für die einen sind die aktuellen Leerstände ein sicheres Zeichen für den endgültigen Niedergang des stationären Handels, für andere jedoch Vorboten einer Metamorphose.
Laut Statistischem Bundesamt ist der Onlinehandel in den ersten elf Monaten 2018 um 6,2 Prozent gewachsen. Wächst er weiter wie bisher, droht bis 2020 jedem zehnten Geschäft in Deutschland die Schließung, so die Prognose des Handelsverband Deutschland (HDE). Das wären insgesamt knapp 50 000 Läden. In 15 Jahren soll jedes zweite größere Einzelhandelsgeschäft verschwunden sein, und schon jetzt verwaisen Randlagen von Fußgängerzonen in vielen mittelgroßen Städten. Denn die Entwicklung, die sich in den USA nicht zuletzt durch das aggressive Agieren von Amazon abzeichnet, wird auch München und Mönchengladbach erreichen. Händler fordern mancherorts schon den Rückbau der Fußgängerzonen, um mit besserer Erreichbarkeit punkten zu können. Doch wäre das ein Schritt in die richtige Richtung?
Die Hauptstätter Straße in Stuttgart ist achtspurig, aber der Hinterhof der Hausnummer 59 wirkt wie eine Oase. Hier arbeitet Dfrost, eine Agentur, die sich auf Einzelhandelsmarketing spezialisiert hat. „Dogs allowed. Egos aren’t“ verkündet ein Schriftzug neben dem Eingang. Geschäftsführer Christoph Stelzer, 47, eilt die Treppe herunter. 2008 hat er Dfrost mit seinem Bruder Fabian, 38, gegründet. Seither sind die Stuttgarter kräftig gewachsen, auf knapp fünfzig Mitarbeiter: Grafik-Designer, Innenarchitekten, Szenographen, Produktdesigner und Projektmanager – die junge Firma belegt inzwischen auch mehrere Flure im Vorderhaus.
In dessen oberster Etage mit Blick auf den Stuttgarter Himmel kommt Stelzer direkt zur Sache. „Bedarfskäufe werden zukünftig online gedeckt. Wenn ich genau weiß, welches Produkt ich brauche, gibt es keinen Grund, in die Innenstadt zu fahren.“ Bereits heute wird jeder zehnte Euro im deutschen Einzelhandel über den Onlinehandel erlöst, so der HDE. Bei Mode, Spielwaren, Büchern oder Elektronik sind die Anteile der Onlineverkäufe sogar bis auf 30 Prozent gestiegen. „Auf Dauer wird sich nur derjenige im Wettbewerb behaupten, der beide Vertriebswege intelligent verknüpft“, sagt Christoph Stelzer. „Stichwort Omnichannel. Kunden bestellen online auf Rechnung, geliefert wird in die Filiale. Dort entscheiden dann die Kunden, welche Artikel sie tatsächlich kaufen.“ In Zukunft würden die Zielgruppen noch mehr zersplittern, der Individualismus sei weiterhin auf dem Vormarsch: „Wir glauben, dass das einzelne Produkt im Vergleich zur Marke wichtiger wird. Die Stores werden zu Showrooms, um diese Produkte erlebbar zu machen.“
Davon ist auch Karl Schwitzke, 64, in Düsseldorf überzeugt. Gemeinsam mit seinem Bruder Klaus betreibt er ein Architektur- und Designbüro für Retail- und Store-Konzepte. 225 Mitarbeiter arbeiten in den Büros zwischen Düsseldorf und Dubai. Schwitzke sieht voller Zuversicht in die Zukunft: „Wir stellen jetzt schon fest, dass auch die großen Häuser auf Spezialisierung setzen. Douglas plant beispielsweise einen reinen Make-up-Store, weil diese Nische dank Instagram besonders gut läuft.“ Instagram-Tauglichkeit, das ist auch im stationären Einzelhandel längst ein Erfolgsbaustein. Je lieber sich Menschen im Laden fotografieren, desto häufiger kommen sie dorthin – und locken mit ihren Bildern weitere an.
Das Unternehmen Liganova, 370 Mitarbeiter, ist ebenfalls ein Big Player der Branche. Der geschäftsführende Gesellschafter Dr. Marc Schumacher sagt: „Der Handel sieht sich mit einem vermeintlichen Widerspruch konfrontiert: Auf der einen Seite ist größtmögliche Bequemlichkeit gefragt, auf der anderen Seite wünschen sich die Kunden Kicks um der Langeweile entkommen.“ Der 41-Jährige führt ins Untergeschoss des Headquarters. Hier hat Liganova, zu deren Kunden auch Lufthansa gehört, einen Showroom für Zukunftsideen eingerichtet: interaktive Schaufenster, Displays mit Nahfeldkommunikation, Vintagemöbel mit eingearbeiteten Screens, sowie weitere Tools und Technologien. Sensoren beispielsweise, die, unsichtbar implantiert, jede Oberfläche in ein Touchpad verwandeln.
Schumacher tritt an einen Teakholz-Schreibtisch mit eingelassenem Touchscreen und legt ein Buch über Designhotels in einen auf dem Bildschirm vorgegeben Quadranten. Eine Kamera über dem Tisch erkennt die aufgeschlagene Seite und sogleich startet auf der Leinwand hinter dem Tisch ein Film über das Gramercy Hotel in New York. Per Touchscreen lassen sich nun die Zimmer besichtige, das Booking-Menü öffnen und die Verfügbarkeiten checken. Dass die Oberflächen dieser Installation nicht kühl und technisch sind, ist dem Zeitgeist geschuldet. ‚Shytech‘ heißt der Trend und er steht für eine Technik, die sich zurücknimmt und überraschend sinnlich ist.
Die Zukunft des Handels? Schumacher muss nicht lange überlegen. „Retail wird überall stattfinden: In Hotellobbys, auf Messen, Festivals und in Co-Working-Spaces.“Er erzählt von seinem letzten Besuch auf der Complexcon in Los Angeles, einem Hybrid aus Messe, Festival und Produktshow. „50 000 Menschen haben dort ein Ticket für durchschnittlich 100 Dollar gekauft, um Shoppen zu gehen. Angeboten wurden ausschließlich ‚Drops‘, also limitierte Editionen von Streetwear- und Sportswearbrands. Das Paradoxe ist: Eine Klientel, die online nach drei Clicks aussteigt, weil es ihr nicht schnell genug geht, steht hier geduldig Schlange.“In solchen Momenten habe der stationäre Handel wieder eine Daseinsberechtigung. „Die Geschäfte werden jedenfalls nicht mehr nur zum Shoppen da sein“, prognostiziert der Retail-Experte.
Erlebnisse in den Innenstädten schaffen, ein junges Publikum anlocken – das klingt plausibel. Li Edelkoort, eine der wichtigsten Trendforscherinnen der Welt, sagt voraus, dass Stores zu Refugien werden, die Menschen umsorgen und sich positiv auf Körper und Geist auswirken. Töne und Licht könnten wichtige Mittel dafür sein. Shopping-Stress werde durch bewusste Erlebnisse abgelöst. Einige Retailer mit Erlebnisfokus gibt es schon. Die Globetrotter ‚Erlebnisfiliale‘ in München wird sogar auf dem Reiseportal TripAdvisor als Ausflugsziel empfohlen. Dort findet sich unter anderem ein großer Pool, in dem Kanus Probe gefahren werden können. Mitten im Laden, von allen Stockwerken aus einsehbar.
Glaubt man den Trendgurus und Retail-Spezialisten, dann könnte sie so aussehen, die Zukunft des stationären Handels: individuelle, instagram-taugliche Stores, in denen gut informiertes Personal gleichgesinnte Kunden erwartet. In Wellnessatmosphäre werden in Kleinserien gefertigte Produkte präsentiert und natürlich ist alles nach ethisch hohen Maßstäben hergestellt. „Wir müssen Anlässe schaffen, zu denen sich die Fangemeinde eines bestimmten Produkts oder einer Marke trifft. Das kann ein Launch sein, eine Kunst-Ausstellung oder ein Sport-Event. Wichtig ist Personal, das den Lifestyle der Marke glaubwürdig vertritt“, sagt Christoph Stelzer. Wieso eigentlich nicht? Klingt doch wunderbar. Wer besteht schon auf die gute alte Fußgängerzone, wenn er diese schöne neue Welt haben kann?
Lufthansa Exclusive
Juli 2019