Arles ist im Ausnahmezustand. Schlag fünf sind an diesem Nachmittag die Straßen leer gefegt. Nur der Mistral, der die Rhone herunterweht, spielt in den Gassen noch mit einem verloren gegangenen Stadtplan. Die feiernden Massen, die an diesem Wochenende lärmend durch die engen Straßen der südfranzösischen Römerstadt zogen, sind ins Oval des antiken Amphitheaters geströmt, wo der letzte Stierkampf der Feria du Riz, des traditionellen Reisfestivals, stattfindet. Unmittelbar vor dem Ende der Reisernte feiert die Stadt alljährlich das Getreide, das auf dem Schwemmland der nahen Camargue angebaut wird.
600 Meter Luftlinie vom Amphitheater entfernt glitzern die Edelstahl-facetten eines gerade entstehenden Museums in der Abendsonne. Auf der Baustelle herrscht sonntägliche Stille. Morgen früh werden die Arbeiten an dem 56 Meter hohen Turm von Architekt Frank Gehry, der wie ein kantiger Eisberg den mittelalterlichen Kirchtürmen der Altstadt gegenübersteht, wieder aufgenommen. Die Außenhülle des Arts Resource Centre zitiert die Arena und die Landschaft: Aus einer Glasrotunde erhebt sich eine Fassade aus 10 752 perforierten Edelstahlblöcken. Mit dem Metallmosaik erinnert Gehry an die Pinselstriche Vincent van Goghs und die Art und Weise, wie der Maler den Kalkstein der nahe gelegenen Alpillen-Gebirgskette in -seinen Gemälden zum Flimmern brachte. Wenn alles nach Plan verläuft, wird der Neubau im Frühjahr 2020 in vollem Glanz erstrahlen.
In den zehn Hektar großen Parc des Ateliers auf dem benachbarten Gelände ist die Kunst bereits eingezogen. Fünf Gebäude des stillgelegten Reparaturwerks der französischen Bahn wurden von der deutschen Architektin Annabelle Selldorf umgebaut, die sich unter anderem mit der Renovierung der Neuen Galerie, einem Haus für moderne österreichische und deutsche Kunst in New York, einen Namen gemacht hat. Seit 2014 finden hier in Arles Ausstellungen, Kunstevents und Konferenzen statt. Im vergangenen Jahr war das britische Künsterduo Gilbert & George mit einer großen Ausstellung vertreten, 2017 hatte die Fotografin Annie Leibovitz eine Show. Große Namen für ein kleines Städtchen wie Arles. Wie kommt man hier zu solcher Ehre? Als Antwort genügt ein Name: Maja Hoffmann. Die 1956 geborene Schweizer Mäzenin ist Miterbin des Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche und hat die Millionen für den Turm, die Hallen und den Park zur Verfügung gestellt. Hoffmann verfolgt ein großes Ziel. Sie möchte die rund 55 000 Einwohner zählende Stadt zu einer Hochburg der Kunst machen. Dafür scheut sie keine Kosten. Der finanzielle Aufwand allein für den Gehry-Turm wird auf mehr als 150 Millionen Euro geschätzt, es ist das größte private Kulturprojekt Europas.
Mit ihrer gemeinnützigen Schweizer Stiftung Luma hat Hoffmann 2014 auf dem Gelände entlang der Bahnstrecke Paris–Marseille Außenposten bezogen. Sie wählte Arles auch aus persönlichen Gründen: Die Milliardärin verbrachte einen Teil ihrer Kindheit hier, mit ihrem Engagement folgt sie obendrein einer Familientradition. Ihr Vater Luc Hoffmann ist Zoologe und Mitbegründer der Umweltschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF). Er baute in der Camargue die biologische Forschungsstation La Tour du Valat zum Schutz der mediterranen Feuchtgebiete auf. Luc Hoffmann war es auch, der den 15 Millionen Euro teuren Museumsbau für die Stiftung Van Gogh beauftragte und den Missstand beendete, dass ausgerechnet in der Stadt, in der Vincent van Gogh das Licht des Südens malte, kein Original des Niederländers zu sehen war.
Die Hoffmanns fanden in Arles gute Bedingungen für ihr Engagement. Der Boden war unter anderem von der Familie Clergue bereitet worden. Der Fotograf Lucien Clergue, ein Freund Pablo Picassos, war 1970 Mitbegründer des internationalen Fotofestivals Les Rencontres de la Photographie d’Arles, das jedes Jahr mehr und mehr Kunstinteressierte nach Südfrankreich lockt. Mit 50 Ausstellungen feierte das Festival sein 50-jähriges Bestehen, und das Who’s who der Fotografieszene fand sich zum Auftakt Anfang Juli in Arles ein. Besonders viel Aufmerksamkeit erhielten dabei die Arbeiten des Initiators Clergue. Seine Werke waren gleich in mehreren Ausstellungen vertreten.
Anne Clergue, Tochter des 2014 verstorbenen Künstlers, betreibt in der Nähe des Rathauses eine Galerie. „Mein Vater war einer der ersten Franzosen, die 1961 im New Yorker MOMA Fotos ausstellten“, erinnert sie sich. Erst vor Kurzem benannte die Stadt Arles eine Straße nach Lucien Clergue. Hier, in Rufweite des Amphitheaters, befinden sich auch das zweistöckige Wohnhaus und das einstige Atelier des Fotografen. Anne Clergue führt durch die verwinkelten Räume. Alles wirkt unangetastet, als könnte der Meister jede Minute hereinkommen und einen Abzug seiner ikonischen Schwarz-Weiß-Akte, die fein säuberlich beschriftet in Hunderten Pappkartons lagern, ins Entwicklerbad der schmalen, winzigen Dunkelkammer tauchen. „Mit der Familie Hoffmann sind wir Clergues schon sehr lange befreundet“, erzählt die Galeristin und nimmt am Schreibtisch ihres Vaters Platz. „Maja hat ihr künstlerisches Auge auf den Festivals geschult, sie hat hier alle großen Fotografen gesehen.“ Nicht nur die Freundschaft, auch das Kunstinteresse verband beide Familien. „Es ist ein bisschen in Vergessenheit geraten – es war meine Mutter Yolande, die 1983 die Fondation Vincent van Gogh gründete. Als sie sich 2008 aus Altersgründen zurückzog, übernahm Luc Hoffmann.“
Van Gogh, „Wangoh“, wie die Franzosen sagen, lebte nur 16 Monate in Arles, ist aber allgegenwärtig. „Van Gogh wollte in Arles eine Künstlerkolonie, ein Atelier des Südens, gründen. Genau das geschieht hier momentan“, sagt Philippe Schiepan. Der Hotelier sitzt auf der Dachterrasse des Le Collatéral im Halbschatten eines aufgespannten Tarnnetzes. Der Gehry-Turm schickt über die Dächer silberne Morgengrüße herüber.
„Arles entwickelt einen regelrechten Sog“, sagt Schiepan. „Der koreanische Künstler Lee Ufan lässt gerade von dem japanischen Architekten Tadao Andō ein Patrizierhaus für seine neue Stiftung umbauen. Im letzten Jahr hat Gucci hier seine Cruise-Kollektion gezeigt, und seit 2015 findet die Innovations-Konferenz Les Napoleons in Arles statt.“
Der gebürtige Pariser und seine Frau Anne-Laurence spürten die Anziehungskraft der Stadt schon seit Jahren. 2012 verwandelten sie eine ehemalige Kirche mit viel Liebe zum Detail in ein Hotel und verteilten geradezu unökonomisch großzügig vier Zimmer im Gebäude. Dazwischen: viel Raum für Kunst und Begegnung. Schiepan möchte das Hotelgewerbe neu definieren – Arles scheint ihm der richtige Ort dafür. „Die Camargue war schon immer von starken Kontrasten geprägt: Die Sonne und der kalte Wind, die antiken Kulturschätze und die raue Landschaft. Die Kunst ist ein gutes Mittel, um Gegensätze zu überwinden.“
Doch Schiepan ist nicht ausschließlich Schöngeist. „Kultur ist nicht alles. Auf uns warten größere Probleme.“ Er meint damit den Klimawandel, aber auch die Arbeitslosigkeit und den Front National, der in Arles in den vergangenen Jahren an Einfluss gewonnen hat. Damit spricht er Luma-Gründerin Maja Hoffmann aus der Seele: gut möglich, dass der Gehry-Turm bald das neue Wahrzeichen von Arles sein wird. Doch auch ihr geht es um mehr als um Kunst. Sie möchte in Arles eine „zeitgenössische Intelligenz“ formieren, möchte eine „Ideenschmiede für Ökologie, Kultur und Menschenrechte“ etablieren.
Im Atelier Luma, einem Thinktank mit angeschlossenem Labor, das in einer ehemaligen Werkshalle auf dem Gelände des Parc des Ateliers untergebracht ist, greifen diese drei Disziplinen ineinander. Rund 20 Mitarbeiter erforschen hier die Möglichkeiten, aus lokalen Rohstoffen alternative Produkte herzustellen. Auf den Tischen in dem hohen, hellen Raum liegen einige der Ergebnisse ausgebreitet: ein Stück pflanzliches Leder, das aus den Stängeln der heimischen Sonnenblume hergestellt wurde, ein hartes, halb transparentes Werkstück aus Meersalz als Glasersatz und ein leichter, styroporähnlicher Stoff, der aus Pilzen und Spreu von Getreide besteht und im Möbelbau Verwendung finden könnte.
In einem abgetrennten Pavillon riecht es nach Meer. Hier werden einheimische Algen in großen runden Tanks blubbernd mit Sauerstoff versorgt. Caroline Bianco ist für die Leitung des Teams mitverantwortlich. „Aus den Algen haben wir einen Plastikersatz aus Biofasern entwickelt. Im 3-D-Drucker entsteht daraus Geschirr, aber auch Textilfarben lassen sich daraus herstellen“, erklärt sie. Bianco ist von Paris nach Arles gezogen, hat einen guten Job dort gegen die Aufbauarbeit in der Provence eingetauscht. Hier sieht sich die Produktdesignerin am Anfang einer großen Aufgabe: „Wir bewegen uns an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Design. Mit unserem Ansatz, das Ökosystem der Camargue mit einzubeziehen, führen wir auch die Arbeit Luc Hoffmanns weiter“, sagt Bianco. „Unser Ziel ist, die in der Camargue gewonnenen Erkenntnisse über alternative, ökologisch vertretbare Materialien auf Rohstoffe aus anderen Gebieten auszuweiten.“
Die Ateliers des Südens und die kreativen, interdisziplinären Arbeiten, die dort entstehen, haben heute eine andere Dimension, als van Gogh es sich jemals hätte ausmalen können. Die Kunst, die Arles die öffentliche Aufmerksamkeit sichert, ist nur die Spitze des Eisbergs. Insofern sorgt Frank Gehrys Museumsbau durchaus für die passende Assoziation: unter der Wasserlinie ist noch viel, viel mehr.
Lufthansa Woman’s World
Ausgabe 4, 2019