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Reste schlemmen

Art & Culture / Food / Travel

Douglas McMaster hat einen Traum: eine Welt ohne Müll. Vor fünf Jahren eröffnete er das erste Zero-Waste-Restaurant der Welt: Im Silo bleibt kein Krümel über. Ob Küchenabfälle, Essensreste oder Verpackung – hier wird restlos kompostiert, weiterverarbeitet, wiederverwertet und recycelt. Nun hat der junge Chef einen neuen Coup gelandet. Gemeinsam mit dem legendären Mixologen Ryan Chetiyawardana aka Mr. Lyan mischt McMaster die Londoner Gastroszene auf. Sie verwandeln als ungenießbar geltende und minderwertig eingestufte Zutaten in sterneverdächtige Speisen und Getränke. Ein Ansatz, der Blaupause eines neuen Foodtrends werden könnte.

Die Hoxton Street in Shoreditch, dem Londoner East End, liegt in flirrender Mittagshitze. 28 Grad im April. Die Londoner haben sich von einem Tag auf den anderen aus ihrer Wintergarderobe geschält. Jungs tragen Shorts, die Frauen schulterfrei. Hier und da ist der erste Sonnenbrand zu sehen. Drinnen im Cub ist es deutlich kühler, die Klimaanlage läuft. Douglas McMaster, der Chef des Bar-Restaurants, das hier im September 2017 eröffnet hat, steht hinter der Theke an einem Induktionskochfeld mit zwei Platten. „Wir haben die kleinste Küche Londons“, lacht er zur Begrüßung. Und tatsächlich: Es gibt keinen weiteren Raum, keinen doppelten Boden. Diese knapp drei Quadratmeter große Nische, die ein Wochenendpendler in seinem Singlestudio vielleicht als Küchenersatz durchgehen lassen würde, ist das Herzstück eines vielversprechenden Neuzugangs der Londoner Gastroszene.
Als „heaps mad shit“, einen Haufen Verrücktheiten, beschreibt Bartender Ryan Chetiyawardana alias Mr. Lyan das, was er und Doug hinter der gemeinsamen Theke veranstalten. Aber sei es drum – die Londoner lieben es. Bis zu siebzigmal am Abend werden hier die Menüs, eine Abfolge aus je fünf Speisen und Getränken, serviert. Dabei hat das Cub gerade mal dreißig Plätze. Das heißt: Zwei- bis dreimal pro Abend schieben sich neue Gäste ins Halbrund der dottergelben Sitzbänke, klemmen sich hinter die hellmelierten Tischplatten aus recycelten Joghurtbechern und blicken erwartungsfroh zur Theke – der Bühne von Doug und Ryan.

Und jetzt das: Der Ofen hat gerade den Geist aufgegeben, die Reservierungen des Abends müssen gecancelt werden. Doug bleibt cool. Aus dem großen, dampfenden Topf, in dem sein Kollege Gus gerade eine Brühe zubereitet hat, fischt er sich zwei Kellen mit weich gekochtem Gemüse: Fenchel, Zwiebeln, Kohl, Lauch, Kartoffeln. Obendrauf häuft er einen Berg aus fermentiertem Rotkohl. „Wir amüsieren uns gerne über unser Belegschafts-Essen. Aber der Zero-Waste-Gedanke ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, und nicht alles, was bei der Zubereitung der einzelnen Gänge anfällt, kann auch fürs Menü verwendet werden. Da müssen wir eben selber ran“, grinst der Chef und schiebt sich von dem späten Mittagessen eine Gabel voll in den Mund.
Douglas McMaster, schwarzes T-Shirt, schwarze Skinny Jeans, hellblaue Augen, ist angetreten, mit seinen Müllvermeidungs-Gastrokonzepten die Welt zu verändern. Die dunkelblonden, schulterlangen Haare hat der 31-Jährige zu einem nachlässigen Dutt zusammengebunden. Wenn Doug spricht, wirbeln seine Hände durch die Luft, auf und ab, wie zwei Schwalben im Formationsflug. Oder im Kreis, wenn Doug seine Gedanken unterstreichen, seinen Aussagen Nachdruck verleihen möchte. Offenbar sind ihm seine Botschaften wichtiger als die warme Mahlzeit. Der Berg Gemüse auf seinem Teller wird jedenfalls nicht kleiner.
„Doug ist der Kopf, ich bin das ausführende Organ“, sagt sein Kollege Gus, der den Platz in der Kochnische übernommen hat. Der Küchendampf und die Hitze des Tages haben ihm den blonden Seitenscheitel an die Stirn geklebt – ein Zeugnis des körperlichen Einsatzes. Gus ist 27, in Irland aufgewachsen, und Dougs rechte Hand. Er wirkt zurückhaltend, anders als sein Boss, der eine radikale, rockstarhafte Aura hat. McMaster brennt für seine Sache, geht großzügig mit Superlativen um. Er kommt direkt zur Sache, Kompromisse sind vermutlich eher nicht sein Ding.

„Silo ist ein hundertprozentiges Zero-Waste-Restaurant, in dem alles restlos wiederverwertet, kompostiert und recycelt wird. Dort mahlen wir aus alten einheimischen Weizensorten unser eigenes Mehl, stampfen unsere eigene Butter“, erklärt Douglas McMaster. „Sämtliche Zutaten werden in wiederverwertbaren Behältern geliefert und unsere anaerobe Kompostiermaschine Berta verwandelt alle organischen Überbleibsel in wertvollen Humus. Hier im Cub geht es uns hingegen in erster Linie darum, Zutaten zu verwenden, die gemeinhin als wertlos erachtet werden.“So adelt der Küchenchef nicht nur Möhren, Rote Beete und Kartoffeln, sondern auch Seegras, Algen, Molke und Nesseln. Solche Zutaten in komplexe Gerichte zu verwandeln ist sein Ehrgeiz. „Kennst du den hier?“. Doug zeigt auf einen 15-Liter-Messbehälter, in dem rund vier Dutzend bambusartige Triebe um Platz kämpfen. „Das ist der gefürchtete Japanische Staudenknöterich, der Schrecken eines jeden Grundstückbesitzers.“ Japanischer Staudenknöterich ist eine extrem schnell wachsende und sich rasant verbreitende invasive Pflanze, die die einheimische Flora bedroht und Bodenerosionen verursacht. „Die Angst vor dem Knöterich ist groß“, erklärt McMaster. „Schon deshalb zieht ihn niemand als Lebensmittel in Betracht. Wir jedoch setzen ihn in Gerichten und Getränken ein – er schmeckt ähnlich wie Rhabarber. Aus den harten Stängeln machen wir Strohhalme.“

Gus hat inzwischen eine Auflaufform über den Tresen geschoben. Rund zwanzig schrumpelige, tiefdunkelrote Objekte in der Größe einer Babyfaust: Rote Beete – kaum wiederzuerkennen. Sie wird erst gedämpft, dann getrocknet und im Anschluss mit einem Gemisch aus ihrem eigenen Saft und Apfelsaft getränkt. Doug kombiniert das Wurzelgemüse mit Schafsjoghurt, Grünkohl und einem Öl aus den Nadeln der Douglastanne. Trotz der optischen Veränderung – der Geschmack ist: Rote Beete im Quadrat.
Es sind also zum einen die ungewöhnlichsten und auf der anderen Seite die gewöhnlichsten Ingredienzien, die McMaster faszinieren. „Ich bin großer Freund der Bauernküche und möchte die Schönheit der einfachen Dinge zeigen.“ Doug steht auf und holt einen Suppenteller mit Kartoffeln auf den Tisch:Jersey Royals, eine Spezialität von der gleichnamigen Kanalinsel, die hier, garniert mit der Scheibe einer sizilianischen Blutorange und Indischem Wassernabel, auf einer samtigen Soße aus reduzierter Molke thronen. „Sehen die nicht toll aus?“, fragt Doug euphorisch und wirkt noch jünger, als er ohnehin ist.

Mit 21 wurde McMaster in einem BBC-Wettbewerb zum besten Nachwuchskoch Großbritanniens gewählt, eine Art Erweckungserlebnis für ihn. „Dieser unerwartete Titel wirkte wie eine Droge auf mich. Plötzlich stand mir die Welt offen.“ Der junge Engländer aus Sheffield ließ alles stehen und liegen und ging auf Reisen. Unentgeltlich arbeitete er in den besten Restaurants der Welt, blieb ein paar Wochen hier, ein paar Monate dort. Und landete nach zwei Jahren in Australien. Dort machte er gemeinsam mit einem Holländer, der aus Baumaterialresten ein Pop-up-Café zimmerte, auf dessen Anregung hin die ersten Gehversuche in Sachen Zero-Waste-Gastronomie.

2013 zog es Doug zurück in die Heimat. Im Gepäck: der Wunsch, die nachhaltigen Ansätze, die er in Australien entwickelt hatte, weiter voranzutreiben. Doch die Mieten in London waren hoch, er wich nach Brighton aus. Und eröffnete dort noch im selben Jahr das Silo, das erste Zero-Waste-Restaurant der Welt, das auch heute, fünf Jahre später, noch immer als beispiellos gilt, was das Maß der Müllvermeidung betrifft.

Von da an ging alles flott. Das Silo brachte Doug viel Aufmerksamkeit ein – und eines Tages stand Ryan vor der Tür. „Wir sind beide Anarchisten, quasi seelenverwandt“, stellt Doug seinen Kompagnon vor. Ryan, der am Central St. Martins Kunst und in Edinburgh Biologie und Philosophie studiert hat, eröffnet 2013 im heutigen Cub seine erste Bar, das White Lyan. „Keine verderblichen Zutaten, keine Früchte, keine Garnituren, kein Eis“, erklärt der Mixologe mit indischen Wurzeln mit knappen Worten seine damalige Philosophie. So verrückt es klingt, das Konzept schlug ein. In ‚Tales of the Cocktail‘ wurde das White Lyon 2017 zur weltbesten Bar gekürt, und das ist nur eine von vielen Auszeichnungen, mit denen Ryan sich schmücken kann. Inzwischen betreibt der 33-Jährige das Super Lyan nebenan und das Dandelyan, eine Cocktailbar im schicken Hotel Mondrian.

Zeit für einen Drink, finden Ryan und Douglas. Ryan mixt für seinen Partner einen verwegenen Portwood Negroni. Glenmorangie Whisky, mit Fallen Pony, einem hochprozentigen Schnaps auf Quittenteekombucha-Basis. Dazu Walnusswein, Zitronenschale, Olive. Für sich macht er einen Dead Nettle Fizz: Seinen hauseignen Gin kombiniert Ryan mit Nesseltee, einem aus Krug-Champagner gewonnenem Essig und japanischem Bergpfeffer. Die Schale garniert er mit einer blühenden Taubnessel.

Doug nippt kurz, aber er ist unter Strom, muss weiter. „Ich bin so gespannt! Heute starten wir bei Silo eine Crowdfunding Initiative.“ Die Schwalbenhände flattern wieder hoch. „Wir haben eine Methode entwickelt, mit der wir mithilfe zweier Maschinen aus Altglas Porzellan herstellen können. Mit weit geringerem Energieaufwand als beim Altglasrecycling! Wir brauchen aber 10 000 Pfund, um die Sache ans Laufen zu bringen. Wenn das klappt, gehe ich in Pension!“ Die Aufregung über das neue Herzensprojekt nimmt man ihm sofort ab. Aber dass er, der Zero-Waste-Messias, sich mit 31 Jahren zur Ruhe setzt? Nie im Leben.

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Oktober 2018