In der Antica Barbieria Colla herrscht andächtige Stille, einzig durchbrochen vom Schnipp-Schnapp der eifrig klappernden Scheren. Der Herrenfriseursalon unweit der Mailänder Scala ist ein Ort, an dem die Zeit auf magische Weise stillzustehen scheint. Unter dem großen kristallenen Kronleuchter verfolgen drei betagte Figaros mit größtem Ernst und unvergleichlicher Eleganz die Mission, den schönen italienischen Mann noch schöner zu machen.
Nur dreihundert Meter entfernt ein ganz anderes Bild. Auf dem Vorplatz des marmorweißen Mailänder Doms, der selbst an trüben Tagen wie von Gott erleuchtet strahlt, empfängt König Vittorio Emanuele II hoch zu Ross sein zahlreiches Gefolge aus stilvoll gekleideten Passanten, fotografierenden Pärchen, kulturinteressierten Touristen und hungrigen Tauben. Linkerhand führt ein Triumphbogen in die prachtvolle Galleria Vittorio Emanuele II, die altehrwürdige Einkaufspassage, die nach dem italienischen Herrscher benannt ist.
In Mailand gibt es die Welt der Einfachheit und Tradition – und es gibt die Welt des Luxus. Der Starkoch Carlo Cracco mäandert zwischen diesen Welten, er lässt sie in seinen Gerichten verschmelzen. Der Veneter ist in der Lage, seine Lieblingszutat, ein schlichtes Hühnerei, in Haute Cuisine zu verwandeln. Vor wenigen Monaten ist er aus einem im Souterrain gelegenen Restaurant in einer stillen Mailänder Seitenstraße in die Galleria Vittorio Emanuele II umgezogen. Seither hat sich Craccos Leben verändert. Hier, in Nachbarschaft von Prada, Gucci, Versace, Armani und Louis Vuitton, hat er für seine Kreationen einen würdigen Rahmen gefunden.
Handgemalte Tapeten, Mosaiken, Parkettböden und erlesenstes Mobiliar sprechen für sich. Die beeindruckenden Interieurs wurden von Cracco persönlich in enger Abstimmung mit dem Mailänder Studio Peregalli ausgewählt. Mit historischen Zitaten gelang es dem Architekturduo, die goldene Zeit der 1877 eröffneten Galleria wieder heraufzubeschwören. Im Erdgeschoss befinden sich das Café und die Chocolaterie, darunter liegt ein Laboratorium und im Basement der Weinkeller. Im ersten Stock ist Craccos Allerheiligstes untergebracht, drei opulente Speisesäle mit großen Spiegeln und Fenstern zum Hauptplatz der Galleria, ein Fumoir und weitere Räumlichkeiten für private, abgeschiedene Diners. Die zweite Etage ist wie eine Theaterbühne konzipiert und für Events reserviert.
Europäisch-italienisch mit asiatischem Twist – so könnte man Craccos Stil beschreiben. Dem Hühnerei misst er dabei besondere Bedeutung zu. Es eröffnet beispielsweise in einem karamellisierten russischen Salat jedes Degustationsmenü. Experimenteller setzt Cracco mariniertes Eigelb an Spargel und schwarzem Trüffel ein. Aber auch ein klassisches Safran-Risotto oder ein Leberragout stehen bei ihm hoch im Kurs.
„Erfahrung ist das Wichtigste“,sagt der 54-Jährige. „Ohne Erfahrung keine Innovation.“ Gerne vergleicht Cracco, ein absoluter Automobilliebhaber, das Kreieren neuer Gerichte mit dem Entwickeln eines neuen Autos. „Nehmen Sie den Aventador SVJ 63.“ Die Begeisterung für die in limitierter 63er-Auflage gebaute Jubiläumsedition von Lamborghini ist ihm anzusehen. „In ihm steckt die jahrzehntelange Designexpertise – und die allerneuste Technologie. Die aufwändigen Details jedoch sind es, die ihn in die Spitzenklasse erheben.“
Diese scheinbar simple Formel ist auch das Fundament von Craccos Erfolg. „Beherrschst du die Kunst, deine Erfahrungen gezielt einzusetzen, sie so mit neuen Techniken zu kombinieren, dass am Ende etwas Neues entsteht, dann bist du in der Lage, deinem Publikum ein einzigartiges Erlebnis zu bieten.“ Auch wenn Cracco persönlich eher beherrscht wirkt – anderen Menschen Emotionen zu entlocken ist für den Meister innerer Auftrag.
Den Einstieg fand der in Venetien aufgewachsene Cracco bei Gualtiero Marchesi, einem Mailänder Nouvelle-Cuisine-Restaurant, das als erstes italienisches Lokal mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde. Später arbeitete er unter Alain Ducasse und Alain Senderens und kehrte nach Stationen in Savona, Florenz und Brescia 2000 nach Mailand zurück. Sein 2007 eröffnetes Restaurant Cracco schlug dort voll ein. Noch im selben Jahr wurde es unter den 50 besten Restaurants der Welt gelistet und erhielt zwei Michelin-Sterne. Seither führt Craccos Weg steil bergan, der Gipfel jedoch scheint noch nicht in Sicht.
Kommende Woche wird er sich auf den Weg nach New York machen, um den Preis für den besten Weinkeller der Welt entgegenzunehmen, vergeben vom US-Magazin „Wine Spectators“. In Craccos neu angelegtem Weinkeller lagern derzeit über 10 000 Flaschen. Bei aller Gourmet-Expertise hat der vierfache Vater jedoch auch noch andere Leidenschaften. Zeitgenössische Kunst zum Beispiel. Sie hat im neuen Cracco-Kosmos ebenfalls einen festen Platz gefunden. Zwei Fenster seines Zwischengeschosses stehen Nachwuchskünstlern und -designern als Ausstellungsfläche zur Verfügung. So profitiert auch die junge Kunst von den 100 000 Passanten, die täglich durch die Galleria flanieren. Und in der Nacht, wenn der letzte Gast glücklich das Restaurant verlassen hat, gehört ihr die große Bühne sogar ganz allein.
Lamborghini Magazin,
Dezember 2019