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Die Dame im Moor

Art & Culture

Juliet Kothe nimmt uns mit auf eine Wanderung durch das Tegeler Fließ, ein Feuchtgebiet im Norden Berlins. Im Gespräch mit Konfekt erzählt die Direktorin der Sammlung Boros, welche Bedeutung Alltagsfluchten im Allgemeinen und das Moor im Besonderen für sie haben.

Von der Kirche zum Gasthaus sind es weniger als fünfzig Schritte. Genau wie von dort bis zum Schulhaus. Zweistöckige Häuser mit pastellfarbenen Neorenaissance-Fassaden baden in der Morgensonne. Tegelort, eine halbe Autostunde nördlich von Berlin-Mitte, könnte einem Theodor-Fontane-Roman entstammen, so schmuck und gediegen wirkt das Dörfchen. So oft sie kann, unternimmt Juliet Kothe, die Direktorin des Privatmuseums Sammlung Boros, kleine Fluchten in die ländliche Umgebung Berlins. Hier, wo die Spatzen den Dorfklatsch von den niedrigen Dächern pfeifen, die Schwalbeneltern in den Pferdeställen Flugstunden geben und die Zeit scheinbar stillsteht, bis die Kirchenglocken sie nachsichtig ans Voranschreiten erinnern, kann sie abschalten.

Wir sind mit ihr zu einer Wanderung verabredet, gehen die kopfsteingepflasterte Straße am Gasthaus Alter Dorfkrug vorbei ortsauswärts und biegen rechts in einen Feldweg ein. Vor uns öffnet sich eine weite Pfeifengraswiese, am Horizont das typische Totholz der Moorlandschaften. Juliet Kothe hat ihre rotblonden Haare zu einem langen Zopf geflochten. „In Berlin sind die Stadtgrenzen schärfer als in Metropolen wie Paris oder London, das ist der Geschichte geschuldet. Über Jahrzehnte konnte sich die Stadt nicht ungehindert ausbreiten. Das hat dazu geführt, dass die Trennung von urbanem und ländlichem Raum bis heute deutlich sichtbar ist.“ Stadt, Land – Juliet Kothe liebt den Kontrast. Und tatsächlich erlebt ihn der Stadtmensch hier in den Feuchtwiesen, durch die ein Bach mäandert, angenehm ausgeprägt.

Juliet Kothe arbeitet in der Berliner Friedrichstraße. Die Sammlung Boros, die sie leitet, ist dort in einem ehemaligen Bunker untergebracht. Rund 30 Leute zählt das Team. „Mein bester Ausgleich zu intensiven Tagen mit viel und unterschiedlicher Arbeit ist Wandern. Im Gehen kann ich Abstand gewinnen und neue Ideen entwickeln.“ Dass sich Kothe dabei nicht in wasserabweisendes Beige hüllt, sprich: keine Outdoorbekleidung trägt, ist für sie selbstverständlich. Heute trägt sie eine elegante heugrüne Seidenbluse mit Volants von John Galliano, einen schwarzen Stufenrock und einen kragenlosen Mantel von Wunderkind, dazu Sneakers. „Ich gehe jeden Tag sechs Kilometer zu Fuß. Das ist gesetzt. Nicht immer reicht die Zeit, um die Stadt zu verlassen, aber wenn ich hier draußen bin, wird mir stets bewusst, wie sehr wir die Natur brauchen, um zu regenerieren. Das Moor steht für Werden und Vergehen. Aber auch dafür, wie schnell wir Ressourcen aufbrauchen, die die Natur in einer Jahrhunderte währenden Transformation geschaffen hat.“

Der Bach begleitet uns, staut sich zu kleinen Tümpeln und flutet hier und da die angrenzenden Wiesen. Wenn Juliet Kothe nicht zum Wandern kommt, muss das Fitnessstudio herhalten. Kothe verausgabt sich gerne: beim Rudern, auf dem Crosstrainer, auf dem Laufband. „Bevor Corona unser Leben lahmgelegt hat, bin ich sonntags alle paar Wochen ins Berghain gegangen.“ Der Technoclub öffnet seine Türen Samstagnacht und schließt sie erst am Montagvormittag wieder. Normalerweise. Derzeit ist der Club verwaist, noch, denn gemeinsam mit Berliner Künstlern arbeitet Juliet Kothe gerade an einem Ausstellungskonzept, das die heiligen Technohallen übergangsweise neu beleben soll. Studio.Berlin heißt das Projekt, das bereits im Sommer letzten Jahres von der Sammlung Boros aus der Taufe gehoben wurde und nun in eine neue Runde geht. Im Zentrum stehen Positionen, die vornehmlich im Coronajahr 2020 entstanden sind.

Für Juliet Kothe ist das Berghain nicht nur privat vertrautes Terrain. In seiner Unwirtlichkeit erinnert das ehemalige Fernheizwerk an den Bunker, in dem die Sammlung Boros untergebracht ist. Bevor die Kunst einzog, befand sich hier ebenfalls ein legendärer Technoclub. 2003 kauften Christian und Karen Boros das Gebäude und sanierten es. Heute finden hier alle vier Jahre wechselnde Ausstellungen statt. 120 bis 140 Arbeiten der 850-teiligen zeitgenössischen Privatsammlung werden dann parallel gezeigt. Welche Entwicklungen beobachtet die Sammlungsleiterin in der Kunst? „Es gibt im Moment wahnsinnig spannende Arbeiten von Künstlerinnen und wir kommen auf ganz natürliche Weise zu einem Gendergleichgewicht“, sagt Juliet Kothe, als wir eine Weide passieren, auf der ein halbes Dutzend Esel in der Sonne dösen. „Die technoiden, überreizten weiblichen Körperskulpturen von Anna Uddenberg beispielsweise, die auch in der Ausstellung Studio.Berlin vertreten sein wird, lenken unsere Aufmerksamkeit auf unser Verständnis von Selbstoptimierung.“ Als ehemaliges Model kennt Juliet Kothe den Druck, den die Idee des Ideals erzeugt. „Wir sollten uns diese Vorstellungen regelrecht abtrainieren. Die Prägungsmuster und unsere Verhaltensweisen zu durchschauen und uns zu emanzipieren, das sollte das Ziel sein. Es ist ein Prozess, in dem man sich selbst immer näherkommt.“

Inzwischen sind wir auf dem Rückweg in die Stadt. Kothe steuert den Mercedes-Kombi zügig durch den Mittagsverkehr im Stadtteil Tiergarten. Nach ihrem Studium der Kulturwissenschaften in Lüneburg ging sie 2010 nach Berlin. Die Energie und Hierarchielosigkeit, die Freiheit, die die Stadt ausstrahlte, begeisterten sie. Nach einem Besuch im Boros-Bunker bewarb sie sich hier als Kunstvermittlerin und brachte den Besuchern für anderthalb Jahre die Sammlung näher. Seit 2017 leitete sie das Privatmuseum.

Wir fahren zum Elternhaus ihres Freundes, dem Künstler Julius von Bismarck. In der Backstein-Villa aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert haben sie mit Juliets 7-jährigem Sohn Valentin die letzten Lockdown-Monate verbracht. Von dem großen Wohnzimmer führen Stufen in den Garten. An dem Holztisch vor der Magnolie schneidet Juliet eine Wassermelone auf. „Julius und ich kochen beide gern. In dieser Küche haben wir viele Kochabende mit Freunden verbracht. Wir haben unser eigenes Brot gebacken, eigenen Lachs gebeizt und eigene Mayonnaise hergestellt.“ Ihr aktuelles gemeinsames Lieblingsgericht: ein Salat aus Chicorée, Fenchel, Orangen, Koriander, Chillies und Parmesan. Juliet Kothe liebt es herzhaft, sie kocht gerne scharf, experimentiert mit Sambuca oder Crémant und rundet ihre Speisen mit Dattelsirup ab. Rezepte sind dabei fast nie im Spiel. Einzige Ausnahme: die Königsberger Klopse ihrer Großmutter. „Die müssen genau so schmecken wie früher“, sagt Kothe lachend.

Wir brechen auf. Ein Atelierbesuch bei der Künstlerin Hannah Hallermann in Neukölln steht noch auf der Agenda. Kothe und Hallermann kennen sich aus ihrer gemeinsamen Zeit als Kunstvermittlerinnen bei Boros und auch Hallermann wird im Studio.Berlin zeigen. Ihre Arbeiten befassen sich mit sozialer Entwicklung, stellen Körper und Kunstwerk in einen dynamischen Zusammenhang. Über den noch im Entstehen begriffenen Skulpturen, Variationen von Teppichklopfern, die formal an die Darstellung des altsteinzeitlichen Fruchtbarkeitssymbols Venus von Willendorf angelehnt sind, entspinnt sich sofort eine angeregte Debatte über Rollenmuster in Familie und Gesellschaft. Doch Kothe muss weiter, Valentin wartet. Je näher der Eröffnungstermin der Studio.Berlin-Ausstellung rückt, desto enger getaktet ist ihr Alltag.

Bevor die Kuratorin im Juni zum Endspurt ansetzen wird, nimmt sie sich jedoch noch eine Auszeit. Mit Julius und Valentin fährt sie in die Schweizer Berge. Eine Woche Wandern.

Konfekt,
März 2022