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Der Harlekin

Fashion / Interview

Er ist ein Jongleur der Muster und Farben – in jeder Saison überrascht der Designer Arthur Arbesser die Modewelt mit frischen Ideen, stets genährt von seiner überschäumenden Joie de vivre. In seinem Mailänder Studio enthüllt er Konfekt seine frühen Einflüsse: das Wien der Jahrhundertwende und die Roben von Roberto Capucci.  

Es ist Sonntag und die Doppeltürme der romanischen Kirche Sant’Ambrogio im Zentrum Mailands, jenem Gotteshaus, das vom Kirchenvater und heutigen Schutzheiligen der Stadt, Ambrosius, gegründet wurde, ragen majestätisch in den leicht bewölkten Himmel. Vis-à-vis an der Piazza Sant’Ambrogio befindet sich ein anderes geschichtsträchtiges Gebäude, ein prominentes Beispiel für die Mailänder Nachkriegsarchitektur: die Casa Caccia Dominioni, von dem gleichnamigen berühmten Architekten auf den Trümmern seines Elternhauses aufgebaut und langjähriger Sitz seines Büros. Dort hat auch Arthur Arbesser sein Studio. Der Modedesigner mit Wiener Wurzeln lebt bereits seit 17 Jahren in der Stadt. Nach seinem Studium am Londoner Saint Martins College verbrachte er sieben lehrreiche Jahre bei Giorgio Armani, bevor er sich 2013 selbstständig machte. Nun arbeitet er auf einer großzügigen Etage in Hinterhof der imposanten Casa. 

Ein eleganter Lift mit hölzerner Schwingtür und lederbezogener Sitzbank schwebt lautlos in den dritten Stock. Arthur Arbesser, wilde hellbraune Locken, schwarze Jeans und Birkenstocks, öffnet Konfekt die Tür und entschuldigt sich mit charmantem österreichischen Slang für das vermeintliche Chaos: die Nachwehen der Mailänder Fashion Week. Tatsächlich erscheint das Atelier, das aus einem großen Hauptraum mit Fensterfronst nach Westen, einem kleineren Vorzimmer mit Chaiselongue, einer Küche mit Esstisch, einem winzigen, überladenen Büro und einem Ruheraum mit Tagesbett besteht, wie eine Wunderkammer. Darin: Bücher und Bilder, Fotobände und Modeskizzen, Stoffballen und Farbmuster, Kleidungs- und Möbelstücke, die sich in allen Ecken und Nischen des Studios zu inspirierenden Stillleben zusammenfügen.   

„Zur Modewoche herrscht hier immer Ausnahmezustand“, erklärt Arbesser mit jungenhaftem Grinsen und schiebt einen Rollständer mit Produktionsteilen aus der aktuellen Herbst-/Winter-Kollektion zur Seite. Gemeinsam mit seiner Studiomanagerin Dietta Albertini möchte er heute einige der aktuellen Looks durchgehen und mögliche Weiterentwicklungen der Modelle für die nächsten Saisons besprechen. Unser Staunen über die gestapelten Bildbände von Heinz Stangl, Pierre Cardin, Elfie Semotan und Julie Cockburn bis hin zu den Frauen der Wiener Werkstätte und The Glass of Architects quittiert er mit einem Lachen: „Das Horten und Sammeln habe ich wohl von meiner Großmutter geerbt.“ Das große Interesse an Kultur, an Architektur, Design und den darstellenden Künsten, haben ihm seine Eltern mitgegeben. „Sie sind erklärte Ästheten und haben mit mir und meinen beiden älteren Geschwistern seit unserer frühesten Jugend Streifzüge durch Europa unternommen. Kirchen, Museen, Opern, Theater – unsere Urlaube waren reine Bildungsreisen. Auch bei 40 Grad im Schatten“, erinnert sich Arbesser. Nicht verwunderlich also, dass er an einem so geschichtsträchtigen Ort wie der Piazza Sant’Ambrogio seine Zelte aufgeschlagen hat.

Dietta ist inzwischen in das erste Outfit geschlüpft, eine weiße Baumwolljacke mit aufgesetzten Taschen und blau abgesteppten Nähten, ein klassisch geschnittenes Hemd mit einem großflächigen, abstrakten Aquarell-Print und einen hauchzarten, handgestrickten cremefarbenen Rock. „Wir erlauben uns den Luxus, Dinge in die Kollektion aufzunehmen, die wir nur in kleinen Stückzahlen produzieren können“, erklärt Arbesser, als der den feinen Wollstrick durch die Finger gleiten lässt. „Seit ich mich auch mit Kostümbild beschäftige, ist mein Interesse für handwerkliche Produktionsmethoden noch gewachsen.“ 2020 lud André Heller Arthur Arbesser dazu ein, die Kostüme zur Richard-Strauss-Oper ‚Der Rosenkavalier‘ zu entwerfen, die Heller an der Berliner Staatsoper Unter den Linden inszenierte. Eine Aufgabe, die Arbesser mit Begeisterung übernahm. „Hellers ‚Rosenkavalier‘ spielt im Wien der Jahrhundertwende. Ich war voll in meinem Element“, schwärmt der Designer, dessen Leidenschaft für die Wiener Werkstätten, für Klimt und Schiele und die Entwürfe von Josef Hoffmann in seinem Studio offenkundig ist. „Losgelöst von marktwirtschaftlichen Zwängen zu arbeiten war eine tolle Erfahrung für mich“, fügt er hinzu. 

„Bereits in Kindertagen hat mich interessiert, in welchem Maße ein opulentes, farbenprächtiges Kleid seinem Träger und seiner Trägerin Macht verleiht. Noch heute fasziniert mich, wie ein Kostüm der Darstellung eines Künstlers oder einer Künstlerin zu noch mehr Ausdruck verhelfen kann“, erklärt Arbesser seine Leidenschaft für die Bühne. „Das erinnert mich an mein erstes Modeerlebnis: Ich war acht Jahre alt und meine Eltern nahmen mich mit zu einer Ausstellung in der Hofjagd- und Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums. Dort wurden alte Rüstungen den prächtigen, skulpturalen Roben von Roberto Capucci gegenübergestellt. Sowohl die Rüstungen als auch die Kleider hatten diese machtvolle Wirkung. Ein prägender Moment“, sinniert der 39-Jährige. Das Plakat der Ausstellung lehnt noch heute hinter seinem Schreibtisch, und die Arbeit am ‚Rosenkavalier‘ zog nicht nur Folgeaufträge nach sich, wie beispielsweise die Ausstattung der Ballettproduktion ‚Der Schneesturm‘ an der Bayerischen Staatsoper in München, sondern brachte auch eine unerwartete Inspiration für die aktuelle Herbst-/Winter-Kollektion. „Sie ist meiner aus Siebenbürgen stammenden Großmutter Mathilde Binder und einem Wiener Geistlichen gewidmet, bei dem sie nach dem Krieg gearbeitet hat. Er hieß Prälat Johannes Neuhardt, war katholischer Priester und Professor, ein sehr kultivierter und gebildeter Mann, der sich regelmäßig mit Peter Handke zum Kartenspielen traf und mich auch getauft hat. Meine Großmutter ist inzwischen verstorben, aber vor nicht allzu langer Zeit bekam ich von dem Prälaten einen Brief. Er hatte den ‚Rosenkavalier‘ gesehen, war beim Kostümbild auf meinen Namen gestoßen und hat sich an mich erinnert. In unserem Briefwechsel erfuhr ich, dass er im Rahmen seiner wissenschaftlichen Arbeit Stoffe kirchlicher Gewänder aus Renaissance und Barock sammelte, und eines Tages erreichte mich eine DVD mit hunderten eingescannten Stoffmustern, an deren Schönheit er mich teilhaben lassen wollte. Fantastisch! Wir haben daraus unseren Barock-Print entwickelt.“ 

Dietta hat inzwischen eine ausgestellte Hose mit dem opulenten Druck angezogen, der Elemente der verschiedensten klerikalen Muster zeigt, und sie zu einem Stricktop mit einem blau-schwarzen Tigermuster kombiniert, wie es auch tibetanische Teppiche aufweisen. „Unsere Strickteile fertigen wir in einer kleinen, sehr exklusiven Produktionsstätte im Veneto, in der fast nur Frauen arbeiten“, sagt Arbesser und zupft am Saum des Tops. „Geleitet wird die Produktion von Signora Aurora Cunach, die immer höchst elegant von Kopf bis Fuß in Issey Miyake gekleidet ist. Obwohl wir im Vergleich zu den anderen Luxus-Marken, die zu den Kunden des Betriebs gehören, relativ kleine Stückzahlen produzieren lassen, haben wir eine beständige Beziehung aufgebaut und fühlen wir uns gut aufgehoben.“ 

In kleiner Stückzahl wird auch das Hemd produziert, das Dietta gerade über einer violetten Schlaghose trägt. Eine kreisrunde Applikation eines hochaufgelösten Blumenprints ziert die Vorderseite des Hemdes. „Die Vorlage, ein runder bestickter Jacquard, stammt aus dem Nachlass meiner Großmutter. Auch sie hatte eine große Sammlung von Stoffen, und dieses Stück war vermutlich für ein Kissen vorgesehen.“ Dietta trägt das Hemd in Größe S, die größeren Größen zeigt Arbesser an Männern. Seine früher nur für Frauen konzipierte Kollektion ist inzwischen unisex. „Die Kontrastnaht auf der violetten Hose könnten wir auch einmal Ton in Ton ausprobieren. Was meinst du Dietta?“, wendet er sich an die Studiomanagerin. Sie stimmt ihm zu, bevor sie wieder in ihre eigenen Kleider schlüpft.

„Ein kleines Unternehmen zu haben, empfinde ich als Luxus“, sagt Arthur Arbesser, als wir nach der Modellbesprechung in seinem Büro Platz genommen haben. „Zugegeben, ich habe lange gezögert, meinen gut bezahlten und mit vielen Annehmlichkeiten verbundenen Job bei Giorgio Armani aufzugeben. Aber ich habe es keine Sekunde bereut. Mit sich und seiner Arbeit im Reinen zu sein und nicht zu versuchen, allen zu gefallen, ist in meinen Augen das Geheimnis eines glücklichen Lebens.“ Arbesser blickt aus dem Fenster auf die sonntäglich verschlafene Via Olona, die an der Nordwestfassade des Hauses vorbeiführt. „Ich wollte einfach etwas machen, das mir voll und ganz entspricht. Und ich nahm an, dass die Presse sich freuen würde, im Umfeld der traditionsreichen, eher klassischen Marken der Mailänder Modewoche einen jungen unabhängigen Modedesigner vorzufinden.“ 

Arbesser hatte den richtigen Riecher. Modekritikerinnen wie Suzy Menkes und Vanessa Friedman von der New York Times sind erklärte Fans seiner lebens- und farbenfrohen Mode und der harlekinesquen Prints. Auch Traditionshäuser wie Iceberg, Fay und Baldinini ließen sich von Arbesser schon einen Frischekick verpassen. Mit der ehrwürdigen Möbelmanufaktur Wittmann, die seit 1896 existiert und noch immer die Lizenzen für Möbel von Josef Hoffmann besitzt, entwickelte der Designer zum letzten Mailänder Salone del Mobile eine Serie von objekthaften gemusterten Stühlen und Boxen. Die passenden Teppiche zur Kollab von Arbesser und Wittmann wurden von CC-Tapis produziert. 

„Im Moment finde ich alles spannend, was mir Eintritt und Einblick in neue Welten verschafft“, gesteht Arbesser und fährt sich durch die widerspenstigen Locken. Dazu zählt auch die Arbeit für die neue Heidi Horten Collection, dem jüngst eröffneten Museum in Wien. Hier durfte er eine Ausstellung mit der Haute-Couture-Mode der Kaufhausmilliardärin und Kunstsammlerin Heidi Goëss-Horten kuratieren. „Die Verbindung zu Wien ist immer präsent. Ich liebe Wien und die reiche Kultur der Stadt, aber ich liebe es eben aus der Ferne. Hier in Norditalien habe ich alles, was ich brauche: die Infrastruktur der Stoffhersteller und Produktionsstätten – und die internationale Presse, die zur Fashion Week regelmäßig zu Besuch kommt. Was er zum zehnjährigen Jubiläum plant? „Ich werde ein paar der ikonischen Stücke der letzten Jahre noch einmal auflegen“, kündigt Arthur Arbesser an. Eine zweite Chance für all diejenigen, die einen der limitierten Bestseller verpasst haben.

Konfekt,
Winter 22/23