Die Adventskränze der Kölnerin Isabelle Niehsen lassen die Jahreszeiten Revue passieren. In ihrem Kölner Atelier Où j’ai grandi zeigt sie Konfekt, wie sie im Winter die getrockneten Blüten und Gräser aus Frühling, Sommer und Herbst in einem üppigen Kranz in Szene setzt.
„Auch wenn meine Kränze wild und opulent sind – penible Ordnung ist für mich bei der Vorbereitung sehr wichtig.“ Isabelle Niehsen steht in einem original britischen Militäroverall in ihrem blaugrau getünchten Blumengeschäft am Kölner Rathenauplatz. Die lockigen Haare trägt sie lose aufgesteckt. Zu ihren Füßen: ein Dutzend rechteckige Kartons mit getrockneten Blumen und Gräsern – Rosen, Nelken, Tulpen. In den offenen Kartons darunter: Lilien, Astern und Hortensien. In der zweiten Reihe finden sich Lisianthus, Tagetes und Hirsestängel neben Fencheldolden, Perückenstrauch, Schleierkraut, Ruscus, Ranunkeln und Islandmoos. Eigentlich nichts, was man in einem weihnachtlichen Kranz vermuten würde. „Wir nutzen keine Tannen- oder Kiefernzweige“, gibt die Blumendesignerin zu verstehen. Warum? Ganz einfach: Die Kränze, die bei Où j’ai grandi zu erwerben sind, sollen nicht nur vier Wochen halten, sondern über Jahre. Und dies rechtfertigt nicht nur den hohen Arbeitsaufwand – vor diesem Hintergrund erscheint auch der Preis von mehreren hundert Euro in einem anderen, milderen Licht.
„Unsere Weihnachtskränze sind wie ein Kaleidoskop des vergangenen Jahres, sie vereinen die Blüten des Frühlings, des Sommers und des Herbstes.“ Niehsen bückt sich und nimmt eine Handvoll Ruscus aus einer der beschrifteten Pappschachteln. „Eigentlich ist Ruscus hellgrün, aber dieser hier wurde nach dem Trocknen gebleicht und dann in einem hellen Cremeton eingefärbt.“ Aus einer anderen Box zupft sie ein paar Butterfly-Ranunkeln, deren Blätter sich beim Trocknen gekräuselt und ein rostiges blasses Bordeaux angenommen haben. „Bereits in den 80er Jahren gab es einen Hype um Trockenblumen – und wie in der Mode kommt auch in der Floristik manches wieder“, sagt sie und fischt aus der Kiste mit dem eingefärbten Islandmoos einige handtellergroßen Stücke heraus.
Frische Sträuße und Blumenarrangements zu kreieren – auch das liebt Niehsen. Doch was sie an der Arbeit mit getrockneten Pflanzen so sehr fasziniert, sind die unendlichen Möglichkeiten. Und so greift bei ihr das eine wie selbstverständlich in das andere. „Einen Teil der Blumen und Gräser trocknen wir selbst.“ Alles, was bei Où j’ai grandi im frischen Zustand nicht weggeht, wird zunächst kopfüber an die Decke gehängt – und verschwindet dann bis zum Winter in den Pappkartons. Darüber hinaus kauft Niehsen auch Trockenblumen an. „Besonders schön sind die gefriergetrockneten Blüten, die den frischen Blumen ähneln und die dennoch quasi unvergänglich sind. Und dann gibt es die luftgetrockneten Blüten, sie als eine Art Memento mori. Ihre welken Blütenblätter und abgetönten Farben transportieren einen melancholischen Charme. Ich finde, die Kombination aus beidem macht den Reiz der Kränze aus“, sagt Niehsen, fasst ihre Auswahl vorsichtig mit beiden Händen und trägt sie nach nebenan, ins Hinterzimmer ihres Ladens.
Dort bricht die Sonne durch das Fenster zum Hof und bescheint den Arbeitsplatz. Niehsen beginnt, die flachen, farbigen Moosstücke mit langen Stecknadeln auf einem großen Ring aus Steckmasse zu befestigen. „Ich achte darauf, Symmetrie unbedingt zu vermeiden. Um Dreidimensionalität zu erzeugen, arbeite ich nach einem Prinzip von drei Ebenen.“ Die unterste Ebene bildet sie aus Islandmoos, das schließlich die grüne Steckmasse komplett bedeckt und die Grundfarben des Kranzes vorgibt. In diesem Fall: Gelb, Rosé und Mauve. „Zugegeben, keine typischen Weihnachtsfarben. Aber die Kränze in diesen Farben sind sehr gefragt!“, sagt die Autodidaktin mit einem kleinen, bescheidenen Lächeln. Die zweite Ebene entsteht, indem Niehsen Blüten und Zweige in die Steckmasse steckt: den cremefarbenen Ruscus, dazu gefriergetrocknete Hortensien, die zartrosa eingefärbt wurden. „Ich binde die Hortensienblüten mit etwas Draht extra noch einmal zu kleinen Röschen zusammen, das sieht noch hübscher aus“, erklärt die Blumendesignerin.
Ursprünglich stammt sie aus Sankt Vith, einem Dorf an der belgisch-luxemburgischen Grenze, das sie jedoch für ein Grafikdesignstudium verließ. Nach drei Jahren an der École Supérieure des Arts Saint Luc in Lüttich wechselte Niehsen an die Kölner Kunsthochschule für Medien, wo im Rahmen des Faches Mediengestaltung auch Bewegtbild gelehrt wurde. „Die Musikvideos von Michel Gondry fand ich großartig. So etwas wollte ich auch machen!“, erinnert sie sich. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Während des Studiums jobbte sie in der Modelagentur Nine Daughters and a Stereo und lernte ihren zukünftigen Mann und Vater ihrer beiden Kinder kennen, der dort als Model arbeitete. Als die Agentur in Tomorrow Is Another Day umfirmierte, war Niehsen Personal Assistant der Agenturgründerin Eva Gödel. Sie arbeitete für Gucci, Jil Sander, Lanvin, Martin Margiela und Prada, hatte Steven Meisel und Serge Leblon am Telefon. „Der Job war aufregend und abwechslungsreich. Dennoch: Ich war fast 30 und sah mich nicht dauerhaft an einem Schreibtisch. 2011 folgte ich einem Impuls und machte mich selbstständig.“ Niehsen streicht sich mit dem Handrücken eine dunkle Locke aus der Stirn. „Où j’ai grandi – ‚Wo ich aufwuchs‘ – sollte ein Atelier für Blumendesign im Stil des traditionellen Pariser L’Art du Bouquet sein“, sagt sie. „Inspiriert von der flämischen Blumenmalerei aus dem XVI. Jahrhundert.“
Der Zufall hatte seine Hand im Spiel – sie wohnte damals um die Ecke – als sie das Ladenlokal am beliebten Rathenauplatz entdeckte, der sich südlich an das Belgische Viertel anschließt. „Ich liebe diesen Ort“, gesteht sie und wirft einen Blick aus dem Fenster in den wild bewachsenen Hinterhof. Dann wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu: „Die zweite Ebene des Kranzes, die ich gerade mit Schleierkraut komplettiere, generiert das Volumen und dient als Gerüst für die dritte Ebene.“ Isabelle Niehsen hält für einen Moment inne, um ihr Werk zu begutachten. „Ich sehe hier und da noch Lücken. Die werden im nächsten Schritt gefüllt. Mit der dritten Ebene, die ich nun anlege, soll der Eindruck entstehen, dass die Blumen schweben, ja fast fliegen.“ Niehsen greift sich eine dottergelb eingefärbte Tulpe, fixiert sie mit Heißkleber an einem Draht. Den Draht steckt sie nur so weit in den Kranz, dass die Blume aus der zweiten Ebene herauszuwachsen scheint. „In der zweiten und dritten Ebene schaffe ich Gruppierungen, Inseln verschiedener Blüten, die in sich harmonisch sind und als Blickfang dienen.“ Getrocknete Tagetes, deren leuchtendes Orange etwas nachgedunkelt ist, strahlenförmige Fencheldolden und eine der edlen, gefriergetrockneten Rosenblüten hat sie zu einer solchen Insel formiert. Nun kommen noch winzige gelbe Limoniumblüten ins Spiel. Sie füllen die letzten Leerstellen.
Nach drei Stunden tritt Niehsen zurück und legt den Kopf schief. „Dazu wären dinkelgelbe Kerzen schön!“, ruft sie und holt vier der großen Kerzen aus der Schublade im Verkaufsraum. Sechzig dieser Kränze wird sie in den kommenden drei Wochen mit ihrer Kollegin Margret Brockel in ihrer Werkstatt, einer ehemaligen Schreinerei in Köln-Bickendorf komponieren. „Danach haben wir vom Stecken Hornhaut auf den Fingerkuppen“, lacht sie. Vielleicht wird ihr ja demnächst ein wenig Arbeit abgenommen – von fleißigen Schüler:innen. Unter dem Motto „Un jour a l’école fleuri“ plant Niehsen eigene Floristikkurse anzubieten. Dort sollen Blumenliebhaber:innen erproben können, wie sie einigen der unendlichen Möglichkeiten mittels Trockenblumen und Steckmasse Gestalt verleihen.
Konfekt 13,
Winter 23/24