Maddalena Scarzella und ihr Partner Matteo Petrucci haben im ligurischen Bocca di Magra das Erbe der Architektin Luisa Castiglioni angetreten. Scarzellas Großmutter verwirklichte in den frühen 1960ern auf einem weitläufigen Waldgrundstück drei Häuser für sich, ihre Familie und ihre Freunde.
„Gebt acht, die Treppe ist schmal“, sagt Maddalena Scarzella, als wir den großen Obst- und Gemüsegarten durchqueren und hinter ihr die roten Backsteinstufen auf dem bewaldeten Hanggrundstück hinaufsteigen. Rechts und links der Stufen, die einseitig von einem zinnoberrot gestrichenen Metallgeländer gesäumt sind, strecken blaue Iris ihre Blüten dem Licht entgegen. Der dichte Wald oberhalb des Gartens besteht aus alten Pinien und Steineichen, Kampfer- und Erdbeerbäumen, dazwischen wachsen Oleander und Rosmarin.
Knapp 100 Stufen führen im Zickzack den steilen Berg hinauf zum ersten Haus, das Luisa Castiglioni von 1961 bis 1963 errichtete. Es besteht aus drei Kuben, die so gestaffelt sind, dass sie dem Hang des Montemarcello folgen. Auf jeder Ebene befindet sich ein Apartment. „Das Gebäude hieß vormals ‚Das gelbe Haus‘, meine Großmutter hatte es in einer für die Region typischen Farbe streichen lassen. Das helle Grau, das es jetzt hat, passt aber in unseren Augen viel besser zum Pflanzengrün der Umgebung. Dennoch haben wir monatelang gezögert, bevor wir es in der neuen Farbe gestrichen haben“, sagt Scarzella, als sie die weiße Holztür aufschließt. Über einer schwarzen, leicht ausgestellten Hose trägt sie ein schwarzes Jeanshemd und Boots mit dicken Raupengummisohlen. Ihr braun gelocktes Haar hat sie pragmatisch zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr Partner Matteo Petrucci, groß und ebenfalls ganz in Schwarz gekleidet, kommt in Birkenstocks den Hang hinab. Gemeinsam betreten wir das unterste der drei Apartments. „Während der Pandemie waren wir hier in Bocca di Magra, um den strengen Restriktionen in Mailand zu entkommen, und fühlten uns wie im Paradies. Wir konnten remote arbeiten und uns frei bewegen. Im Jahr drauf beschlossen wir, ganz hierher zu ziehen“, erklärt Petrucci. „Wir haben den Ort Boccamonte getauft, nach der Flussmündung Bocca di Magra und dem Berg Montemarcello.“
Maddalena Scarzella arbeitete acht Jahre lang als Direktorin und Kuratorin in der Mailänder Fondazione Carla Sozzani, Petrucci war in diesen Jahren als Architekt tätig. Als solcher hatte er auch einen großen Anteil an der Renovierung und den umsichtig vorgenommenen kleineren Veränderungen, wie dem neuen Anstrich. „Hierher zu ziehen war der für uns beste Weg, die Gebäude zu erhalten“, ist er überzeugt.
„Im unteren Apartment schlief ich in den Sommern meiner Kindheit“, erzählt Scarzella. Gemütlich muss sie es damals gehabt haben, das ist noch immer spürbar: Von einem Stockbett mit integriertem Regal kann man durch kleine quadratische Fensterluken in den Wald blicken. In der Nacht können sie von innen mit Klappen verdunkelt werden. „Es gibt einige charakteristische Merkmale, die den Stil meiner Großmutter ausmachen“, erklärt ihre Enkelin. „Zum Beispiel die enorme Vielfalt an Fenster- und Türlösungen – angefangen mit den Reihen von quadratischen Fenstern über aufwändige Eckkonstruktionen oder auch Fenster und Flügeltüren, deren Läden in die Wand eingelassen sind, bis hin zu Glaserkern, die in die Natur hineinragen.“ Scarzella führt uns den schmalen Gang entlang in den Hauptraum des Apartments, wo sich in einem offenen Wohnraum mit Kamin und Kochnische ein solcher Erker befindet. Er scheint den Wald geradezu ins Haus einzuladen. „Großen Einfluss auf Maddalena‘s Großmutter hatte Frank Lloyd Wright und die Art, wie er Natur und Architektur verschmelzen ließ. Daher gibt es auch in jeder Etage mehrere Terrassen und fast jeder Raum verfügt über mindestens eine Terrassentür. Die Außenbereiche sind die logische Fortführung des Interieurs“, sagt der Architekt Petrucci.
Obwohl die Zimmer von überschaubarer Größe sind, spiegeln alle Innenräume das dekonstruktivistische Prinzip, dem Castiglioni sich gestalterisch verpflichtet fühlte: Die Grundrisse zeigen perspektivische Sichtachsen, Einschnitte, Schlitze und Nischen. Asymmetrische Deckenkonstruktionen, kubistische Elemente und kleine Luken lassen jeden Raum facettenreich und lebendig wirken. Sogar der von Scarzellas Großmutter selbst konstruierte Küchenschrank aus Multiplexholz verzichtet weitgehend auf rechte Winkel und wirkt dennoch so, als nutze er den ihm zugewiesenen Platz optimal aus.
Einige große Marmorstufen führen in die zweite Etage, die offener und luftiger konzipiert ist als das untere Geschoss. Ein Panoramafenster rahmt dort den spektakulären Ausblick ein wie ein Gemälde. Das Grünblau des Flusses Magra, der hier in unmittelbarer Nähe ins Ligurische Meer fließt, leuchtet in der Spätnachmittagssonne. Dahinter ragen die Gipfel der Apuanischen Alpen in den wolkenlosen Himmel. Sie tragen noch weiße Schneemützen. „Dort drüben ist schon die Toskana“, erklärt Scarzella, deren Blick dem unseren gefolgt ist. Nahe dem Fenster steht ein langer Teak-Tisch für etwa zehn Personen, ebenfalls ein Entwurf von Castiglioni. Auch die Bücherregale und Sofas, in ihrer Schlichtheit von unbestechlicher Eleganz, stammen von Scarzellas Großmutter. „Sie arbeitete mit vielen großen Architekten ihrer Zeit zusammen, mit Franco Albini, Giancarlo De Carlo und Rita Bravi. Mit ihnen verwirklichte sie Architektur- und Städtebauprojekte. Umberto Riva, dessen ‚E63‘-Lampen für Bieffeplast sich hier im Haus mehrfach finden, war einer ihrer lebenslangen Wegbegleiter und besten Freunde.“
Marcel Breuers „Wassily“-Sessel, der von Knoll aufgelegt wurde, und die Lampen der mit Luisa weder verwandten noch verschwägerten Gebrüder Castiglioni für Flos jedoch stammen aus dem Fundus der Enkelin und ihres Partners. „Meine Großmutter war pragmatisch. Sie kaufte fast nie Designgegenstände, vielmehr interessiert sie sich für Objekte des täglichen Lebens und Dinge, die sie auf Reisen mit ihrem Lebensgefährten Hans Deichmann entdeckte.“ So sammelte Luisa Castiglioni beispielsweise osteuropäische Emaillekannen und afrikanische Kopfstützen. Hans Deichmann wiederum begeisterte sich für Karussellpferde aus dem 19. Jahrhundert und Kunst. Die Lithografien von René Magritte und Horst Antes, die einen festen Platz in Boccamonte bekommen haben, sind Teil der großen Sammlung, die er zusammengetragen hat.
„Wir verfügen über einen enormen Fundus von Objekten. Matteo liebt es, die Räume immer wieder umzudekorieren“, lacht Scarzella, als wir auf die Terrasse treten und Tina, die graue Karthäusermischung und eine von drei schnurrbärtigen Mitbewohnerinnen, ihr schmeichlerisch um die Beine streicht. „Bei der Modifikation der Häuser versuchen wir, die Philosophie von Luisa im Auge zu behalten“, sagt Petrucci, der uns in den Garten gefolgt ist. „Für die Renovierung des Bodens und der Bäder hätten wir gerne wieder zu den petrolfarbenen Kacheln gegriffen, die sie überall in den Häusern verwendet hat.“ Leider existiert die lokale Manufaktur, aus der diese stammen, nicht mehr. „Nie hätte Maddalenas Großmutter gewollt, dass wir Unsummen dafür ausgeben, die Fliesen nacharbeiten zu lassen“, fährt Petrucci fort, während er uns zum Eingangsbereich der dritten Wohnung des Hauses führt. „Daher haben wir mit dem weißen Marmor aus Carrara vorliebgenommen, den auch Luisa ihrerzeit schon einsetzte. Den Steinbruch von Carrara kann man von unserem Fenster aus sehen, der Marmor ist hier in der Gegend wirklich günstig, auch weil wir ihn selbst abholen können.“
In dem Apartment, gefliest mit weißem Carrara-Marmor, das sich in dem der drei Kuben mit der höchsten Hanglage befindet, erwarten uns zwei Schlafzimmer und zwei weitere Terrassen. Scarzella beginnt erneut zu erzählen: „Meine Großmutter kam auf Einladung des Verlegers Giulio Einaudi in den frühen 1960ern nach Bocca di Magra. Er wünschte sich einen Entwurf für ein Ferienhaus von ihr. Aus dem Projekt wurde nichts, aber Castiglioni und Deichmann verliebten sich in das verschlafene Fischernest und kauften ein großes, von zwei Bergbächen begrenztes Grundstück.“ Der Deutsche Hans Deichmann, ein studierter Jurist, der als Verkaufsagent für I.G. Farben gearbeitet und in der Zeit des Nationalsozialismus eine Schlüsselposition in der italienischen Resistenza eingenommen hatte, war sehr gesellig und liebte es, Freunde um sich zu scharen. Als das erste Haus fertiggestellt war, baute Castiglioni etwas oberhalb das zweite, um drei Bäume herum. Das erste Haus teilte sie in drei Einheiten auf. Es wurde zum Gästehaus für Familie und Freunde.
„Um den Geist des Ortes zu erhalten und ihn vor Investoren zu schützen, gründeten Deichmann und Castiglioni gemeinsam mit Schriftstellern und Journalisten wie Vittorio Sereni, Giulio Einaudi, Nicola Chiaromonte und Franco Fortini die Società degli Amici di Bocca di Magra. Unser Wunsch ist es, diesen Faden wiederaufzunehmen. Arbeitsaufenthalte und Residencies von Musikern, Künstlern und Schriftstellern könnten eine wunderbare Bereicherung für Boccamonte sein. Wir vermieten die Apartments aber auch an Urlaubsgäste“, sagt Scarzella, als wir das Haus verlassen und die nun tiefer stehende Sonne die Gipfel der gegenüberliegenden Berge in rotes Licht taucht. Wir steigen ein paar Dutzend Stufen zu dem im brutalistischen Stil gebauten Haus hinauf, das Scarzella, Petrucci und die gemeinsame Tochter Zelda seit anderthalb Jahren selbst bewohnen. „Es ist eine deutliche Weiterentwicklung gegenüber dem ersten Haus, viel eigenwilliger, nicht nur wegen der unverputzten Fassade. In diesem Haus, das meine Großmutter von 1963 bis 1965 baute, lebte sie. Erst über vier Jahrzehnte zusammen mit Deichmann – er starb 2004 –, dann bis zu ihrem Tod 2015 allein“, sagt Scarzella, als wir an der überrankten Terrasse vorbei zu dem in einer Nische versteckten Eingang gehen.
Vor der Tür schlüpft Scarzella aus ihren Schuhen und bittet uns hinein. Zu unserer Linken die Küche. Sie hat nur wenige Quadratmeter Fläche und erinnert ein wenig an eine Kombüse, dennoch gelang es Castiglioni, hier für die großen geselligen Dinners zu kochen. Auch das Bad, das Kinderzimmer und das Schlafzimmer, die über einen schmalen Flur erreicht werden können, sind von überschaubarer Größe. Insgesamt bietet das Haus etwa 80 gut aufgeteilte Quadratmeter. Der Wohnraum mit der Pendelleuchte, die Giuseppe de Finetti 1934 für die Banca Commerciale Italiana in Mailand entwarf, wird von einer Konstruktion aus versetzten Stufen mit den petrolblauen Originalfliesen beherrscht, die zu einer Terrassentür auf einer höhergelegenen Ebene führen. Von dort erreicht man das „Incompiuta“, das dritte architektonische Projekt Castiglionis, das sie das „Unvollendete Haus“ nannte, weil es, anders als die beiden ersten Bauten, nicht zügig fertiggestellt wurde. „Meine Großmutter war beim dritten Haus lange unschlüssig, wie es aussehen sollte. Erst als sie die Londoner Sterling Library sah, fand sie die entsprechende Inspiration und vollendete es in den frühen 1970ern“, berichtet Scarzella. Heute ist dieses dritte Gebäude mit der gläsernen Fensterfront ihr Lieblingsrückzugsort. Es beherbergt nur einen Wohn- und Schlafraum, ein winziges Bad und eine kleine Kochnische, ist aber ein idealer Ort für einsame Lesestunden. „Meine Großmutter war sehr bibliophil, es gibt einen riesigen Bestand an Büchern. Ich würde gerne eine eigene Bibliothek damit bestücken“, sagt die Kuratorin.
Zunächst aber möchte sie den Arbeiten von Luisa Castiglioni eine wissenschaftliche Veröffentlichung widmen und so ihre Bedeutung für die Nachwelt konservieren. Ein weiteres Projekt ist ein Fotoband mit den Aufnahmen einer ausgedehnten Amerikareise, die Luisa Castiglioni mit Hans Deichmann unternommen hat. Und dann wäre da noch der Swimmingpool, der unten im Garten auf eine Wiederbelebung wartet. Über Langeweile werden Scarzella und Petrucci in den nächsten Jahren bestimmt nicht klagen. „Zum Glück kommt Delia noch immer täglich vorbei und versorgt die Hühner, das Obst und das Gemüse. Sie ist über 90 Jahre alt, arbeitet seit den frühen 1980ern hier, erscheint aber noch immer jeden Morgen, um nach dem Rechten zu sehen“, sagt Scarzella, als wir, eskortiert von der Bengalkatze Stellina, die Backsteintreppen wieder hinuntersteigen. „Delia erinnert sich sogar noch an den Lieblingsort von Hans, einen Stuhl, den er mitten im Wald platziert hatte, um dort jeden Morgen in Ruhe die Zeitung zu lesen. Neben ihm stand immer eine Tasse, mit der er frisches Wasser aus dem Bach schöpfte.“ Auch solche Rückzugsorte soll es wieder geben. Außerdem wird Scarzellas Vater gemeinsam mit einem Agrarwissenschaftler die Flora des Grundstückes überdenken und überarbeiten.
Als wir uns verabschieden, zeigt Scarzella uns die Stelle, an der einst ein viertes Haus stand, das ihre Großmutter auf dem Grundstück errichtet hatte. Es war ein winziges Holzhaus, das aussah, als entstamme es einer Kinderzeichnung – eine Liebeserklärung an die Enkelin. „Ich habe dort tagelang gespielt“, erinnert sich Scarzella mit glänzenden Augen. „Leider hat der Bach es irgendwann mitgerissen.“ Doch Boccamonte ist ein lebendiger Ort. Vielleicht bekommt Zelda ja demnächst auch so ein kleines Refugium, das sie mit den schönsten Erinnerungen an endlose Tage in der Natur füllen kann.
Konfekt,
Frühjahr 2024