Mariane Ibrahim ist Weltbürgerin. In Neukaledonien als Tochter somalischer Eltern geboren, wuchs sie in Frankreich auf, studierte in Großbritannien und Kanada. Heute unterhält sie Galerien in Chicago, Paris und Mexico City. Ihr Schwerpunkt: die Arbeiten afrikanischer und afrikanischstämmige Künstler. Auf einem Spaziergang durch Paris erklärt sie, warum Kunst ihr Leben ist.
Als wir Mariane Ibrahim am Arc de Triomphe du Carrousel treffen, hat die Sonne halb Paris in den Jardin des Tuileries gelockt. Es ist ein milder Nachmittag und Ibrahim trägt einen schwarzen Blouson-Blazer aus feiner Wolle von Sportmax zu einer schwarzen Anzughose des Pariser Männermodelabels Officine Générale und weißen Dior Sneakers. Sie wohnt nur zehn Minuten entfernt, am linken Seine-Ufer, und beginnt jeden ihrer Pariser Tage in dem barocken Park zwischen dem Louvre und der Place de la Concorde. „Die konsequente Morgenroutine eines schnellen Drei-Kilometer-Laufs hilft mir, zwischen den Zeitzonen Struktur zu schaffen und meine Energiereserven zu aktivieren“, sagt Ibrahim, als wir, das Museum im Rücken, den Kiesweg entlanggehen. „Morgens um sieben teile ich den Tuileriengarten nur mit ein paar anderen Läufern. Nachmittags flaniert man hier“, fügt sie hinzu und rückt ihre beigefarbene wollene Basecap von Toteme auf dem glatten schwarzen Haar zurecht.
Ibrahims Leben spielt sich zwischen Chicago, Mexiko-Stadt und Paris ab – den Standorten ihrer Galerie. Letzte Woche hatte sie eine Eröffnung in Paris, daher ist sie nun für zwei Wochen in der französischen Hauptstadt.
Wir folgen dem schnurgeraden Weg, der uns zu einem der beiden kreisrunden Ententeiche des Parks führt. Dutzende Spaziergänger haben auf den schilfgrünen Metallsesseln Platz genommen, um die laue Luft zu genießen. Die Paris+, der Pariser Ableger der Art Basel, eröffnet in den kommenden Tagen und in den Tuilerien ist die Sonderausstellung „La Cinquième Saison“ installiert. 26 internationale Künstler zeigen Arbeiten, die Flora und Fauna des historischen Gartens zitieren und die klassischen griechischen Skulpturen, die diesen ebenso prägen, mit einbeziehen. „Joël Andrianomeariosa, ein sehr guter Freund von mir, mit dem ich eine Gruppenausstellung in Chicago plane, hat für „La Cinquième Saison“ eine In-situ-Installation geschaffen. Wollen wir sie uns ansehen?“, fragt Ibrahim und geht federnden Schrittes an den langen blühenden Rabatten des sogenannten Grand Carré vorbei, die zur Ausstellung Naples à Paris angelegt wurden. Die Blüten von Salbei, Spinnenblumen und Dahlien greifen die warmen Farben der Meisterwerke von Caravaggio und de Ribera auf, die im benachbarten Louvre zu sehen sind.
Zweihundert Meter weiter der Brunnen von Nicolas Coustou, in dessen rechteckigem Bassin sich zwei marmorne Figuren eine wilde Jagd zu liefern scheinen: Apollo, von Amors Pfeil getroffen, verfolgt im Liebesrausch die scheue Nymphe Daphne. Dazwischen 15 abstrakte, vasenartige Glasskulpturen, die hier nun für die Ausstellungsdauer auf Metallsockeln im Wasser thronen. „Seht nur, da ist Joël! Ich kann es nicht glauben! Salut, toi!“, ruft Ibrahim erfreut und begrüßt den Freund mit zwei Küsschen. Andrianomeariosa, der aus Madagaskar stammt und in Paris lebt, erklärt gerade einer Gruppe von Kollegen seine Glasarbeiten. „Serenade Serenade – Serenade And The Triumph Of Romance“, so der Titel der Installation, die dem tragischen Mythos die Macht der Liebe entgegensetzt.
Nach nur wenigen Schritten trifft Ibrahim auf eine weitere Bekannte: Magalí Arriola, die Direktorin des Tamayo Museums in Mexico City. „Keine Stadt eignet sich besser für eine Kunstmesse als Paris. Alle Sammler kommen hierher. Es gibt das gute Essen, die tolle Architektur, die Mode – Paris ist unschlagbar.“ Sagt Ibrahim, als wir uns von Arriola verabschiedet haben und die Orangerie passieren, in deren Innenraum Monets Seerosen auf dem dunkelgrünen Teich schwimmen. Von einer barocken Balustrade aus, die das Ende des Parks markiert, überblicken wir die Place de la Concorde. „Der Platz ist mein Lieblingsort in Paris. In der Nacht hast du hier das Gefühl zu schweben, wenn alle Lichter leuchten. Der Obelisk, naja, wir tolerieren ihn“, lacht sie.
Wir queren den Platz auf der Westseite und gelangen auf das breite Champ-de-Mars. Linker Hand lassen wir das Grand Palais Éphémère mit seiner demontierbaren folienbespannten Holzskelettstruktur liegen, in dem die Kunstwelt sich in den nächsten Tagen die Klinke in die Hand geben wird. Errichtet wurde es für die kommenden Olympischen Spiele. Bis es so weit ist, dient der temporäre Veranstaltungsort vielfältigen kulturellen Zwecken, so auch als Messehalle für die Paris+ par Art Basel.
Wir biegen rechts in einen kleinen Park, in dem sich in einem Rundbau der Club Marigny befindet, ein Café-Restaurant, das Ibrahim oft besucht. Bis zu ihrer Galerie ist es nur ein Katzensprung. Wir entscheiden uns für die Terrasse und nehmen unter der schwarz-weiß gestreiften Markise Platz. Mariane bestellt einen Verbene-Tee, der in einem silbernen Kännchen serviert wird.
In Ihrer Pariser Galerie stellen Sie derzeit Peter Uka aus Köln aus, der in leuchtenden Farben Erinnerungen an seine nigerianische Heimat malt. Was ist das Spannende an seinen Arbeiten?
Seine Bilder wirken auf mich vertraut, wie ein Déjà-vu. Teilweise malt er seine Verwandten, teilweise fiktive Figuren. Es gibt diesen 3D-Effekt in seinen Bildern, fast scheint es, als könnte man in sie hineingehen. Uka versucht, die Trennung zwischen Werk und Betrachter aufzuheben, und erreicht das mittels seiner unbestreitbaren Kunstfertigkeit als Maler.
Sie vertreten vorwiegend afrikanische und afrikanischstämmige Künstler. Welche Idee steckt dahinter?
Es ist weniger eine Idee als eine Berufung. Ich spürte die Notwendigkeit, diese Aufgabe zu übernehmen. In vielen Narrativen über die afrikanische und afrikanischstämmige Bevölkerung in den USA und Europa wird ihre Beteiligung an Kultur, Wissenschaft, Architektur oder Kunst unrichtig dargestellt. Ein andauernder Prozess der Rekonstruktion und Wiedergutmachung ist im Gange, ein kollektives Unterfangen, und ich bin glücklich, etwas dazu beitragen zu können. Kunst ist mein Leben.
Im Sommer 2023 zeigte der Fernsehsender Arte den Dokumentarfilm „Yes We Can. L’art noir contemporain“. Was hat dieser Film für Sie bewirkt?
Es war eine Ehre, in diesem Dokumentarfilm mitzuwirken, für den wir viel positives Feedback erhalten haben. Die Ausstrahlung hatte zur Folge, dass Interessierte aus allen Generationen in die Galerie kamen. Mir gibt es ein großartiges Gefühl, die Sichtbarkeit jener Künstler zu erhöhen, die bislang von vielen ignoriert wurden.
Sie selbst haben im Marketing gearbeitet, bevor Sie Ihre erste Galerie eröffneten. Wie kam es zu der Fokussierung auf Kunst?
Ich habe die Galerie 2012 gegründet, hatte mich aber schon Jahre zuvor für afroamerikanische Künstler interessiert. Dennoch hatte ich gezögert, weil ich fürchtete, nicht das Zeug für eine Karriere als Galeristin zu haben. Dann aber überwog der Wunsch, den Künstlern der Minderheiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich wollte sie so respektvoll und engagiert wie möglich repräsentieren.
Wann haben Sie bemerkt, dass sich auch andere Galerien und Institutionen wie Museen für die von Ihnen vertretene Kunst öffnen?
Ich glaube, es gab eine allgemeine Bewegung, in letzter Zeit vor allem in den USA. Afroamerikaner sind Teil der Vereinigten Staaten, aber in vielen Bereichen wie auch der Kunst nicht sehr präsent. Das sagt viel über den Zustand der Nation, den gesellschaftlichen Status quo aus. Viele Museen haben ihre Sammlungen zuletzt genauer unter die Lupe genommen und festgestellt, dass es Diskrepanzen gibt, dass Minderheiten – wobei ich diesen Ausdruck nicht mag – abwesend sind. Das gilt für Afroamerikaner, aber auch für Hispanoamerikaner, queere Menschen und Frauen. Um die Geschichte eines Landes vollständig zu erzählen, braucht man all die verschiedenen Stimmen. Andernfalls bleibt die Erzählung eindimensional. Es tut sich was, das wurde auch in Dakar spürbar, dem Schauplatz der größten Biennale Afrikas für zeitgenössische Kunst.
Der kenianisch-britische Maler Michael Armitage erzählt emotionsgeladene Geschichten aus Ostafrika und lässt dabei sein detailliertes Wissen über die europäische Kunstgeschichte durchscheinen. Amoako Boafo hat bei Kirsi Mikkola in Wien studiert, und seine Werke werden manchmal in Zusammenhang mit Egon Schiele gebracht. Peter Uka war Student der Kunstakademie Düsseldorf. Was beeindruckt Sie an dieser Kunst, die unter dem Einfluss verschiedener Kulturen steht?
Die Fähigkeit, sich anzupassen. Wir Afrikaner sind global und sprechen viele Sprachen. Wir sind wie Schwämme, die die Kulturen aufsaugen und die sie so mischen und neu kombinieren können. Afrikanische Künstler blicken auch auf die westliche Kunst. Für Amoako Boafo ist es genauso selbstverständlich, sich mit den Malern der Secession zu verbinden, wie es für Picasso selbstverständlich war, Gemälde zu schaffen, die von traditionellen afrikanischen Artefakten inspiriert sind. Es geht in beide Richtungen.
Hat Kunst die Macht, die Gesellschaft zu verändern?
Kunst hat die Macht, alles und jeden zu verändern.
Michelle und Barack Obama sind das erste schwarze Präsidentenpaar, das es in die Nationalgalerie in Washington geschafft hat – und sie sind die ersten, deren Porträts von schwarzen Künstlern, von Kehinde Wiley und Amy Sherald, gemalt wurden. Was hat sich durch Obamas Amtszeit für Sie verändert? Und was geschah, als Trump an die Macht kam?
Insgeheim bin ich von Europa in die USA gezogen, um unter einem schwarzen Präsidenten in der westlichen Welt zu leben. Ich fand ihn belebend und energiegeladen. Könnte er Amerika verändern? Vielleicht! Ich wollte Teil einer sozialen und politischen Bewegung sein, vergleichbar mit der Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren. Aber die USA sind so komplex, und Obama hatte wohl nicht die Freiheit, große Veränderungen zu bewirken. Unter Trump standen die Dinge dann unter anderen Vorzeichen. Seine Politik hat Amerika gespalten, und das bedeutete auch, dass wir von den Trump-Gegnern mehr Solidarität erfahren haben. Meiner Meinung nach waren die Menschen unter Trump aufmerksamer für unser Programm als unter Obama.
Die Künstlerinnen und Künstler, die Sie vertreten, eint nicht nur ihre afrikanische Herkunft im weitesten Sinne, sie gehören auch alle zu Ihrer Generation, arbeiten dabei meist figurativ und übersetzen ihre persönliche Realität in Kunstwerke. Wie beeinflusst diese große Schnittmenge die Zusammenarbeit?
Ich bin Weltbürgerin und fühle mich nirgendwo fehl am Platz. Die Zusammenarbeit mit Künstlern einer Generation, der auch ich angehöre, ist eine einzigartige Chance. Wir teilen dieselben Bestrebungen und dieselbe Sprache, wenn ich so sagen darf. Das ist es, was mich interessiert und begeistert. Man fühlt sich mit ihnen verbunden und ist Teil ihrer Mission.
Sie haben Ihre berufliche Laufbahn im Vereinigten Königreich im Marketing begonnen. Wann haben Sie den Entschluss gefasst, als Kunsthändlerin zu arbeiten?
Im Marketing wird einem beigebracht: Wenn du eine Idee hast und es dafür noch keinen Markt gibt, dann setze sie um. Ich war frustriert, dass ich in den Museen keine Werke von Künstlern afrikanischer Abstammung sehen konnte, die meiner Generation entstammen. Ich habe zunächst privat Kunst von Künstlern der afrikanischen Diaspora gesammelt, bis mir klar wurde, dass das Vertreten dieser Künstler meine Berufung ist.
Sie sind 2019 von Seattle nach Chicago gezogen. Warum?
Chicago hat eine pulsierende Szene, außergewöhnliche Sammlungen, angesehene Museen und Kunstschulen sowie Künstler von Weltrang. All das hat zu meiner Entscheidung, nach Chicago zu gehen, beigetragen. Es war eine gute Entscheidung.
Amoako Boafo, Zohra Opoku, Peter Uka und Clotilde Jiménez gelten heute als Stars der Kunstszene. Wann und wie haben Sie sie kennengelernt?
Ich wurde Zohra Opoku 2016 von einem gemeinsamen Freund vorgestellt, wir haben uns sofort verstanden. Clotilde Jiménez war noch dabei, seinen Master of Fine Arts abzuschließen, als ich einen Beitrag von ihm auf Instagram sah. Wir trafen uns 2017 zum ersten Mal in Mexiko-Stadt. Wer hätte gedacht, dass er sechs Jahre später der Erste sein würde, der in unserer neu eröffneten Galerie in Mexiko-Stadt ausstellt? Auf Amoako Boafo bin ich ebenfalls online aufmerksam geworden. Ich war fasziniert von seinem Standort. Wien? Warum eigentlich? Wir kamen ins Gespräch, und als ich ein unglaubliches Gemälde von ihm sah, wusste ich, dass wir dafür bestimmt sind, zusammenzuarbeiten. Peter Uka ist unser jüngster Neuzugang, er hat die gleiche Energie wie Boafo, und ich war ich von seiner Arbeit fasziniert. Noch bevor ich ihn kennengelernt hatte, erschien er mir durch sein Werk sehr vertraut. Ich bin sehr gespannt auf seine Ausstellung in Paris.
Im Jahr 2021, mitten in der Pandemie, haben Sie Ihre Galerie in Paris eröffnet. Wie kam es dazu?
Ich wollte näher an meiner Familie sein, die größtenteils in Bordeaux lebt. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass es für die Stadt der Lichter an der Zeit ist, zu glänzen.
Wie unterscheidet sich der europäische Kunstmarkt vom amerikanischen?
Zum einen durch seine Größe. Es gibt mehr Sammler, mehr Institutionen, mehr Künstler. Man ist spontaner auf dem amerikanischen Markt, kauft eher emotional als intellektuell, kennt wenig Beschränkungen. Die amerikanischen Kunstsammler unterstützen sowohl ihre lokale als auch und die internationale Kunstszene.
Es ist bereits angeklungen, Sie haben im Februar 2023 auch eine Galerie in Mexiko-Stadt eröffnet. Welche Bedeutung messen Sie Mexiko-Stadt derzeit bei?
Mexico City ist die größte Stadt Nordamerikas und eine Kunstmetropole. Die Stadt hat eine fantastische Geschichte, wunderbare Museen und eine grandiose Architektur. Auch kulinarisch ist sie Weltklasse.
Was inspiriert sie in Mexiko-Stadt, was in Paris und Chicago?
In Mexiko-Stadt ist es der Vibe, die Energie der Menschen, die üppige Natur und die Geschichte. In Chicago bin ich zuhause. Es ist für mich der Inbegriff der Americana – in seiner Vielfalt, Exzellenz, Coolness und Fortschrittlichkeit. Paris hat für Künstler große Symbolkraft, historisch vor allem bedingt durch die Kunst der Jahrhundertwende. Für mich ist das Trio aus drei Galerien eine perfekte Formel.
Für welche Art von Kunst interessieren Sie sich im Moment?
Kunst in monumentalem Maßstab.
Was ist Ihr Ziel? Wovon träumen Sie?
Ich möchte meinen Horizont erweitern und meine Neugier befriedigen. Ich träume von Frieden.
Konfekt,
Frühjahr 2024