Ein zweistöckiger Industriebau im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, umgeben von Mietshäusern, im Innenhof hält ein Jaguar Winterschlaf unter einer dünnen Decke Neuschnee. Hier leben und arbeiten Gert und Uwe Tobias. Die eineiigen Zwillinge, im rumänischen Siebenbürgen geboren, sind in der Kunstszene bekannt für ihre riesigen bunten Holzschnitte. Den nötigen Raum für ihre Arbeit haben sie in diesem 1000 Quadratmeter großen früheren Messebaulager gefunden. Der Fußboden des ersten Stocks ist mit Fragmenten der Tobiasschen Figuren übersät: freigestellte, ausgeschnittene, aufgeklebte oder ausgesägte Körperteile. Weitere Puzzlestücke von surrealen Geschöpfen ruhen in Kartons und Kisten. Dazwischen Farbreste in alten Gurkengläsern, halb ausgequetschte Tuben, zwei Tischsägen, Druckplatten, Sägespäne. Sieht aus wie ein unaufgeräumtes Spielzimmer, das sich die Brüder mit Hieronymus Bosch, Salvador Dali und Francis Bacon zu teilen scheinen.
An diesem Tag ist die Kunstsammlerin Lina Miccio in dem Wohnatelier erschienen, um mit den Zwillingen ein gemeinsames Vorhaben zu besprechen: eine textile Kunst-Edition. Auf dem großen weißen Tisch der geräumigen Küche liegen gut ein Dutzend Entwürfe, unter anderem für ein Hoodie, ein T-Shirt, ein Tuch und einen Mantel mit Kapuze. „Der Rücken besteht aus zwei Schnittteilen“, erläutert Miccio und deutet auf die Skizze des Mantels. Uwe, fünf Minuten älter als sein Bruder, mustert die Zeichnungen. Gert blickt ihm über die Schulter. „Warum eine Naht?“, fragt er knapp, das gerollte R lässt seine rumänische Herkunft erahnen. „Das Motiv ist zu groß, wir müssen es aus drucktechnischen Gründen teilen“, erläutert Miccio.
Miccios Anspruch und Ansporn ist, Kunst und Mode zu verbinden. Dazu entwickelt sie in enger Zusammenarbeit mit Malern oder Bildhauern tragbare Kunstwerke. Unter dem Label Speaking Garments hat sie bereits zwei Limited Editions mit zeitgenössischen Künstlern gelauncht, im April soll die mit den Tobias-Twins erarbeitete Kollektion auf den Markt kommen. Höchste Zeit also, die Entwürfe zu finalisieren.
„Speaking Garments ist keine Marke im herkömmlichen Sinne, vielmehr eine Edition. Ich möchte Künstler, die ich besonders schätze, einem modeaffigen Publikum nahebringen“, sagt Miccio. Die 47-Jährige war lange PR-Managerin und Kommunikationschefin für das italienische Denim-Label Replay, hat oft mit Musikern, Schauspielern, Tänzern und bildenden Künstlern zusammengearbeitet und ist durchsetzungsstark: Wenn es darum ging, ihren damaligen Chef von einem Projekt mit einem Künstler zu überzeugen, stiefelte sie so oft in sein Büro, bis er seinen Segen gab.
Miccio kennt Gert und Uwe Tobias seit zwei Jahren, einer der Tobiasschen Holzschnitte hängt in ihrem Wohnzimmer. Die Kunst der Brüder auf ein anderes Medium zu übertragen wird nicht einfach sein. Sie sind bekannt dafür, groß zu denken: Zwei mal drei Meter, das ist das gängige Format ihrer Werke. Für die Motive zappen sie sich durch die unterschiedlichsten Genres der Kunstgeschichte, kreuzen subtil und auch ironisch das Vokabular von Konstruktivismus, Surrealismus und Pop-Art, arbeiten mit Mitteln von Collage, Malerei, Schreibmaschinenzeichnung, Holzschnitt, Skulptur und Keramik. Die Protagonisten ihres Œuvres sind schwer fassbare, fantastische Kreaturen, die Werke tragen meist keine Titel, sollen sich schneller Deutung entziehen. Auch die Urheberschaft der einzelnen Arbeiten ist nicht transparent. Zwar signieren sie beide jedes ihrer Werke. „Aber wir arbeiten nie gemeinsam an einem Objekt“, betont Gert. Seit 2001 sind die Brüder im Geschäft, seit mehr als einer Dekade spielen sie in der ersten Liga des Kunstbetriebs. Ihre Ausstellung im New Yorker MoMa 2007 war einer der Höhepunkte ihrer internationalen Karriere, heute erzielen ihre Werke Preise im fünfstelligen Bereich. Doch die Arbeit mit Textilien ist Neuland für die beiden.
Angesichts der ausgreifenden Bildwelten der Zwillinge fiel Miccio die Auswahl der Motive nicht leicht. Und: „Ich musste einen Siebdrucker finden, der sich zutraut, diese Farbgewalt auf blaue und graue Baumwollstoffe zu drucken“, sagt Miccio. Pro Motiv können je nach Anzahl der Farben bis zu zehn Siebe nötig sein. Bei drei Motiven, wie sie zum Beispiel der Mantel zeigen soll, ein höchst aufwendiges Unterfangen. „Nee, bleib mir weg damit, Mädsche!“ – manch Kölner Siebdrucker machte keinen Hehl aus seiner Unlust, einen derart komplizierten Auftrag anzunehmen.
Von solchen Schwierigkeiten aber lässt sich Miccio nicht bremsen. „Mein erstes Projekt habe ich mit Michail Pirgelis realisiert – einem Bildhauer!“, erzählt sie und verdreht lachend die Augen. „Möchtest du es dir nicht ein bisschen leichter machen?“, fragte sie damals ihr Mann Stefan, ein Immobilienmakler, der ihre Kunst- und Sammelleidenschaft teilt. Wollte sie nicht. Pirgelis setzte sich für ein Kunstprojekt gerade mit dem Material ausgemusterter Flugzeuge auseinander, Miccio wollte die Materialfragmente wie Anstecker an die Sweatshirts der ersten Speaking-Garments-Edition pinnen. Die Frage war: Wie können die Metallstücke an den Textilien fixiert und zum Waschen wieder entfernt werden? Wochen vergingen, bis ein Goldschmied mittels einer Schraubverbindung die Lösung fand.
Miccio stimmt den Stil der Kleidung exakt auf den Input der beteiligten Künstler ab. „Jede dieser Capsule-Kollektionen, die jeweils aus zwei bis vier Teilen bestehen, beinhaltet andere Kleidungsstücke“, erklärt sie. Zu Pirgelis’ technoiden Oberflächen passten gerade geschnittene weiße T-Shirts und Sweatshirts mit offenen Kanten. Bei der Zusammenarbeit mit dem Maler Jan-Ole Schiemann, dessen Arbeiten zwischen abstrakt und figurativ, zwischen Comic und Konstruktivismus changieren, fand Miccio Streetwear passender. Also konzipierte sie eine Kollektion aus Hoodie, T-Shirt, Kängurujacke und Netzblouson, die sie jeweils mit Ausschnitten aus Schiemanns Werk bedrucken ließ.
Doch wer kauft diese Mode überhaupt? Miccio beschreibt ihre Zielgruppe als „Menschen, die auf der Suche nach einem Kleidungsstück sind, das länger als nur eine Saison Gültigkeit hat und dessen Wert sich nicht nur an der modischen Aktualität bemisst“. Das Wissen um die Arbeitsbedingungen in der Fast Fashion und das schale Gefühl, das beim Kauf eines billig verarbeiteten Kleidungsstücks zurückbleibe, habe bei vielen Modefans eine Sehnsucht nach Beständigkeit ausgelöst. Manch einer dürfte sein „sprechendes Kleidungsstück“ allerdings lieber als Objekt an die Wand hängen – oder sogar als Wertanlage wegsperren. Bei Preisen um 400 Euro und einer Limitierung auf je 100 Stück werden die Teile wohl auch nicht unbedingt in die Waschmaschine wandern. Sie könnten aber – das ist Miccio wichtig. Was sie ebenfalls betont: dass ihre Kollektionen im Gegensatz zu der derzeit so beliebten künstlichen Verknappung von Massenprodukten wie Sneakern, Koffern oder Handtaschen nicht aus Berechnung limitiert sind. Sondern aus ganz praktischen Gründen, weil sonst der Aufwand gar nicht zu stemmen wäre, wie im Fall der Pirgelis-Edition. Dass alle Stücke nummeriert und obendrein handsigniert sind wie jedes andere künstlerische Werk auch, versteht sich von selbst.
Die Geschichte der Kollaboration von Mode und Kunst reicht bereits Jahrzehnte zurück. Schon in den 1980er-Jahren suchten Modeunternehmen alternative Wege, um Kunden zu binden. Zur Avantgarde zählten James Rosenquist und Sol LeWitt mit ihren Seidentüchern für Louis Vuitton. 1993 beauftragte Comme des Garçons die US-amerikanische Fotokünstlerin Cindy Sherman medienwirksam mit Shootings für eine Modekampagne. Eine Partnerschaft mit der Kunst, so das Kalkül, kann Modeprodukte adeln.
Seit der Jahrtausendwende hat sich die Beziehung zwischen Mode und Kunst weiter intensiviert. Angesichts eines übersättigten Modemarkts müssen sich die großen Modehäuser etwas einfallen lassen, um hervorzustechen. Der Zeichner-Punk Raymond Pettibon, der wie die Tobias-Brüder bei der Berliner Galerie Contemporary Fine Arts unter Vertrag ist, hatte im Januar in Paris seinen großen Mode-Moment: Dior-Designer Kim Jones, seit Teenagertagen ein Bewunderer des Amerikaners, übertrug vorhandene und eigens neu angefertigte Arbeiten seines Idols auf Prints, Strick, Stickereien und Jacquard-Webereien der Männerkollektion für den kommenden Winter. Die britischen Ikonen Gilbert & George machten im Dezember 2018 gemeinsame Sache mit dem irischen Modedesigner J. W. Anderson, einem erklärten Fan des Künstlerpaars. Und Calvin Kleins damaliger Chefdesigner Raf Simons kooperierte im Sommer 2018 mit der Andy Warhol Foundation, um einer Kollektion seines Hauses eine Dosis amerikanischen Pop-Art-Erbes zu verpassen, und druckte Warhols Konterfei auf Shirts und Schuhe.
Miccio dagegen verfolgt ein Konzept, das nicht auf den textilen Abklatsch bestehender Kunstwerke hinausläuft. „Komplette Arbeiten ohne Modifikationen auf Textilien zu übertragen ist nicht mein Ansatz. Ich möchte etwas Neues schaffen und arbeite deshalb mit Details und Zitaten“, grenzt sie sich ab. Bei der Auswahl der Partner für ihre Kollektionen folgt sie ihrem Gespür, nicht aktuellen Hypes. An den Entwürfen der Tobias-Edition muss sie jedoch erst einmal ohne die Brüder weitertüfteln: Gerade hat Luigi Maramotti, der Inhaber des Modekonzerns Max Mara, einen gesamten Raum mit ihren Werken gekauft. Nun reisen die Zwillinge in die Emilia Romagna, um ihre Arbeiten in Maramottis Privatmuseum zu installieren. Lina Miccio fährt inzwischen noch einmal zu ihrem Siebdrucker in der Kleinstadt Gevelsberg. Vielleicht bekommt der die Prints ja doch noch größer hin.
Lufthansa Woman’s World
Ausgabe 1/2019