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Trittbrett fahren in San Francisco

Travel

Die Aussichtsplattform des Coit Towers liegt 150 Meter über null. Südlich des Art-Déco-Turms auf dem Telegraph Hill ragt das spitze Dreieck der Transamerica Pyramide empor, im Westen erhebt sich die Golden Gate Bridge, im Osten die Bay Bridge, dazwischen die Fisherman’s Wharf, Alcatraz und das Ferry Building. Einmal hier oben, hat man sämtliche Wahrzeichen San Franciscos im Blick. Im Gegensatz zu den verschwitzten Fußgängern, die den Hügel über steile Treppen erklommen haben, stehe ich entspannt in der frischen Brise, die die Wolken auseinandertreibt. Ich bin mit dem E-Scooter da.

San Francisco ist eine Petrischale für Zukunftsideen. Nur 30 Autominuten sind es ins Silicon Valley, die Heimat von Apple und Tesla, Google und LinkedIn. Die Stadt ist bevölkert von Digital Natives und Nerds, die neue Ideen ins Rollen bringen. Ein idealer Nährboden, auf dem auch in Sachen Mikromobilität so einiges sprießt: Neben E-Scootern, also Tretrollern mit Elektroantrieb, sieht man auf den Straßen E-Skateboards, Hoverboards (Boards mit zwei Rädern rechts und links), Onewheels und Solowheels (mit je nur einem Rad). Klein, smart, tragbar, die Verkehrsmittel der Zukunft sind handlich. Und die Stadt, die mit ihren vielen Hügeln die Topgrafie eines Eierkartons aufweist, ist eine Teststrecke, die Laune macht.
Vom Fuße des Coit Towers verläuft die Filbert Street gen Westen, 31,5 Prozent Gefälle, die steilste Straße der Stadt. Sie diente als Sprungschanze in „Bullitt“, dem Actionklassiker mit Steve McQueen. Zaudernd stehe ich am oberen Rand der anderthalb Kilometer langen Halfpipe. Vor mir glitzern bis zum Horizont Autodächer wie Tautropfen an dem von einer strenggeometrisch arbeitenden Spinne angelegten Straßennetz. Von Ferne grüßen die acht Serpentinen der Lombard Street, die mit 27 Prozent zwar weniger steil, aber dank ihrer engen Kehren noch berühmter ist. Wer sich diese Straßenschlucht hinabzustürzt, braucht schon Vertrauen in die Bremsen der kleinen Roller. Der linke Daumen klebt am Hebel, vorsichtig umfahre ich Schlaglöcher. Auf vier rasselnden Rädern schießt ein Skateboard an mir vorbei, mit einem gewagten Ollie wechselt der Fahrer vom Bürgersteig auf die Straße.
Unten in der Kehre wabert Holzofenduft aus den italienischen Restaurants, die Liebhaber der mediterranen Küche freuen sich auf ihr Mittagessen. Ich biege in die Stockton Street ab und stoße vor ins Reich der Mitte. Chinesische Händler schieben Sackkarren mit Reis übers Trottoir, Papierlampions tanzen im Wind. Heute im Angebot: getrocknete Seegurken, Garnelen, Ginseng und rot-goldene Glücksversprechen.
Mit der Fahrpraxis steigt der Spaß, ich sause auf, ab und wieder hinauf. Dabei lief meine Mission anfangs alles andere als rund. Eine Dreiviertelstunde bin ich am Morgen durch die Häuserschluchten im Zentrum geirrt. Einmal lotste mich die App des Verleihers zu einem Scooter, dem der Strom ausgegangen war, das nächste Gefährt war in einem Hinterhof eingeschlossen. Endlich finde ich eines mit blau-gelbem Design, von Skip, einem der beiden Verleiher hier: Grundgebühr ein Dollar, jede weitere Minute 25 Cent. Mit den Autos von Uber oder Lyft fährt man billiger, dafür aber mit weniger Wind im Haar und weniger kalifornischem Freiheitsgefühl.

Obwohl die Geschichte des E-Scooters noch so jung ist, hat sie schon Höhen und Tiefen erlebt. Ted Trautman, Journalist und Experte für Transport und Verkehr, testete das Gefährt im April vergangenen Jahres im Auftrag des „San Francisco Chronicle“. Trautman blickt aus dem Fenster des „Philz Coffee“, Market Street, Downtown, auf die silbrig spiegelnde Fassade des Salesforce Towers. Auf dem Vorplatz flattern die amerikanische und die kalifornische Flagge. „Das Ganze ging los im Frühjahr vergangenen Jahres“, sagt er. Drei kalifornische Start-ups, Bird, LimeBike und Spin, setzten damals geschätzte 3000 elektrische Leih-Scooter in San Francisco aus – völlig ohne Absprache mit den Behörden.“ Nahezu geräuschlos, aber mit über 25 Kilometern pro Stunde sausten sie durch die Stadt. „Für ein paar Wochen herrschte der Wilde Westen“, so Trautman: Unfälle häuften sich, einige verliefen gar tödlich. Bilder von achtlos hingeworfenen Rollern in Parks, Einfahrten und Hauseingängen, gingen um die Welt.
Im Frühsommer wurde es der SFMTA, der San Francisco Municipal Transportation Agency, zu bunt, die Behörde verbat die Roller, so schnell wie sie gekommen waren, waren sie wieder verschwunden. Trautman allerdings hatte bei seiner Testfahrt das Potenzial gesehen, das in den kleinen Fahrzeugen schlummerte. „Die amerikanischen Städte sind rund um das Auto gebaut, der Verkehr kollabiert in den Ballungszentren. Das gilt auch für San Francisco. Würden mehr Roller zur Verfügung stehen, würde so mancher Pendler, der täglich Stunden im Stau verbringt, auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen.“ Eine Hoffnung, die auch die Behörden nicht begraben wollten. Also beschloss man eine geregelte Neueinführung, zunächst zu Testzwecken. Die Bedingung: keine Bürgersteigfahrten, korrektes Parken, Verleih erst ab 18 Jahren und nur gegen Führerschein. „Momentan gibt es 1250 E-Scooter in San Francisco. Die verlieren sich natürlich in einer 900 000 Einwohnerstadt“, sagt Trautman.

Ich schaue nach meinem Fahrzeug und habe Glück. Es ist noch da, wo ich es abgestellt habe. Ich folge der Market Street. Immer wieder rücken mir dort Elektrobusse gefährlich auf die Pelle. Sie sind mit ihren Stromabnehmern an die Oberleitungen gebunden, das schließt einen Spurwechsel aus. Und dann sind da noch die Schienen der Straßenbahn … Was hat Trautman noch gleich über Unfälle gesagt? Ich wechsele verbotenerweise auf den Bürgersteig. Ein paar hundert Meter weiter beginnt zum Glück wieder eine Radspur.
Gen Süden wird die Market Street breiter, der Himmel rückt ins Bild. Links erhebt sich das Headquarter von Twitter, ein elfstöckiges Art-déco-Gebäude aus den späten Dreißigerjahren, das einen ganzen Straßenblock einnimmt. Der übernächste Eingang gehört zum Betonbau von Uber, hier werden die Dimensionen des Hightech-Booms greifbar. Zur Abwechslung durchquere ich ebenes Gelände – und es gibt eine komfortable grün markierte Radspur, die ich mir mit anderen Zweiradfahrern teile. Kollegiales Klingeln hilft, wenn ich mich ihnen fast lautlos von hinten nähere.
Hinter Uber biege ich rechts ab. Gefügig zieht die 350-Watt-Batterie mich die Gough Street hinauf nach Hayes Valley. Das Viertel ist gespickt mit kleinen Restaurants, Modeläden, Cafés und Eisdielen, hippe Twenty-Somethings flanieren von Tür zu Tür. Ich folge der Hayes Street, immer der Sonne entgegen. Blau, gelb, grün, gelb, braun, blau, gelb fliegen die Fassaden der „Painted Ladies“, der bunten viktorianischen Holzhäuser am Alamo Square, an mir vorbei. Ein Dutzend Blocks weiter tauche ich in den Golden Gate Park ein, die Luft hier ist kühler und angenehm feucht. Das zwiebelförmige Spitzdach des Conservatory of Flowers, des botanischen Gartens, lugt über die Hecken. Wenige hundert Meter weiter ragt die rotbraunen Kupferfassade des de Young Museums wie ein scharfkantiges Kunstwerk in den Himmel. In die Monet-Ausstellung? Ein andermal. Es fährt sich gerade so schön! Am Martin Luther King Jr. Drive, der sich wie eine Riesennatter durch den Park schlängelt, schrecke ich einen Fischreiher auf.
Ein Blick auf die App verrät, dass mir der Weg an den nahe gelegenen Pazifik-Strand verwehrt bleibt: Der Stadtteil Outer Sunset ist auf der Karte rot eingefärbt. Leider. Zu gerne hätte ich meine Nase in den Wind gehalten und mal in Richtung Hawaii geschaut. Mein Akku ist noch halbvoll – mein eigener Energievorrat dank des Elektromotors sogar nahezu unangetastet. 50 Kilometer kann ein vollständig aufgeladener E-Scooter schaffen, ich bin gerade mal 15 Kilometer gefahren. Was mich ausbremst, sind die Vorschriften.

Mit denen kennt sich Sanjay Dastoor aus, Mitbegründer des E-Scooter-Anbieters Skip. Der 35-Jährige empfängt mich einem winzigen Besprechungszimmer, das er sich über dem Großraumbüro in einem ehemaligen Fabrikgebäude im Stadtteil Mission eingerichtet hat. Im Erdgeschoss kümmern sich drei Dutzend Angestellte um das Tagesgeschäft, zwischen Schreibtischen und Bürostühlen parken leuchtend blaue Elektroroller. „Das Gebiet, auf dem unsere Kunden fahren dürfen, ist noch sehr eingeschränkt“, sagt Dastoor. Er selbst würde die Zone lieber heute als morgen erweitern. Aber er hält sich strikt an die Regeln. Bloß keinen Ärger provozieren. Skip und sein Konkurrent Scoot sind die einzigen Firmen, die nach dem Anfangsfiasko die Genehmigung bekamen, je einige hundert E-Roller in der Stadt zu platzieren. Schaffen sie es, dass ihre Kunden sich an Mindestalter, Tempolimits und Parkbestimmungen halten, dürfen sie nach und nach die Zahl erhöhen und ihren Radius erweitern. Dabei denkt Dastoor nicht nur an Besucherinnen wie mich, denen es Spaß machen würde, bis zum Strand zu rollern. Sondern vor allem an die Bewohner San Franciscos Blick, die eine günstige Alternative am dringendsten benötigen: „Wir wollen auch die schlechter Verdienenden mit Mikromobilität versorgen und die, die weiter draußen leben“, sagt er. Außerhalb der Innenstadt fahren weniger Busse und S-Bahnen als im Zentrum, Elektrofahrzeuge, die einen bis zur nächsten Haltestelle bringen, bieten dort einen echten Vorteil.
Dafür bedarf es allerdings nicht nur einer besseren Infrastruktur und einer größeren Flotte – auch ein sozial gestaffeltes Bezahlmodell müsste her, damit es ein Fahrzeug für alle wird. Mein Geldbeutel ist jedenfalls inzwischen überstrapaziert. Über hundert Dollar habe ich verfahren, für rund 25 Kilometer. Ich lasse mich bergab zum Mission Dolores Park rollen. Die große Rasenmulde, die sich an den Hang schmiegt, ist mit schwatzenden Grüppchen garniert, über ihnen schwebt eine Glocke aus Marihuanaduft und Lebensfreude. Von der Bucht zieht Nebel auf, als wolle er die Stadt unter einer Decke verschwinden lassen. Ich parke mein Gefährt. Ich bin mir sicher, hier wird es schnell neue Freunde finden.

Geo Saison 11, 2019