Istanbul, die Stadt, in der orientalische Traditionen auf modernen Lifestyle treffen, ist die Heimat des Designers Ümit Ünal. Ein Wanderer zwischen den Welten.
Wie viele Jahre Ümit Ünal und ich uns nun schon kennen – schwer zu sagen. Unzählige Besuche an seinem Stand bei Düsseldorfer Messeauftritten haben mir sein Gesicht vertraut gemacht. Die beständig hohe Qualität seiner Kollektion ließ eine Stippvisite bei ihm zum saisonalen Must werden, zumal Ümit Ünals charismatische Ausstrahlung diese Begegnungen stets zum Gute-Laune-Garanten machte. Daher freue ich mich sehr, als wir uns endlich in Istanbul, seiner Heimat, gegenüberstehen, und auch er strahlt über das ganze Gesicht – schon nach zwei Minuten sind wir in ein intensives Gespräch verstrickt.
Ein Taxifahrer bringt uns mit landestypischem waghalsigen Fahrstil nach Eyüp, wo Ünal und seine Familie das Atelier der nach dem Designer benannten Marke betreiben. Wir befinden uns in einem wenig touristischen Teil der Stadt mit fast dörflichem Charakter. Um uns herum steile Gassen, die gesäumt sind von teppichklopfenden Hausfrauen und einzelnen Kaffeehäusern, vor denen alte Männer mit runden Kappen Tee trinkend in die warme Oktobersonne blinzeln. Ein zweistöckiges Gebäude, das ohne erkennbaren Bebauungsplan auf das Dach einer großen Halle gesetzt wurde, ist der Firmensitz von Ümit Ünal. Eine große Dachterrasse, ein fantastischer Panoramablick über die Hügel der Stadt. Hier arbeitet der Designer an seinen Kollektionen, unterstützt von seiner Familie und einem seiner ältesten Freunde. Ein Bruder und zwei Schwestern sind mit im Team, und auch die Mutter ist, wenn auch im Hintergrund, noch ins Firmengeschehen involviert.
Bereits als Kind arbeitete Ümit Ünal im Produktionsbetrieb seiner Eltern – eine prägende Zeit und die Basis für die nunmehr 20-jährige Karriere im Modebiz. Dennoch war sein Weg alles andere als vorgezeichnet, wie er mit herzerwärmender Offenheit erzählt.
Ümit, Du hast schon als Achtjähriger für Deinen Vater gearbeitet, der einen Produktionsbetrieb besaß. Kannst Du Dich an Deinen ersten Modemoment erinnern?
Ümit Ünal: Ehrlich gesagt war die Arbeit im Betrieb meines Vaters für mich zunächst eine lästige Pflicht. Mein Vater war sehr streng und sehr genau. Ich arbeitete damals schon wie ein Erwachsener. Die Leichtigkeit und Verspieltheit, die ich schmerzlich vermisste, konnte ich erst viel später leben, als ich erwachsen und unabhängig wurde. Eines Tages jedoch, ich mag acht oder neun Jahre alt gewesen sein, traf ich eine Kundin, eine Deutsche, die als Designerin unsere Produktion besuchte – ich weiß noch, dass sie Frau Jürgens hieß. Diese Begegnung veränderte mein Leben. Hatte ich bis dahin eine große Abneigung gegenüber der Bekleidungsherstellung empfunden, war ich nun fasziniert von der Eleganz, Haltung, Stimme und Sanftmut dieser Person, die da vor mir stand. Sie verkörperte für mich den Modehimmel, während meine Arbeit mir zuvor wie die Hölle erschienen war. Wenn diese Person für die Mode stand, dann wollte ich auch Mode machen.
Dennoch hast Du Dich zunächst für die Archäologie entschieden.
Ja, als Elfjähriger hatte ich erstmals den Traum, Archäologe zu werden. Ich wollte dem Atelier entfliehen, wollte weit weg an Ausgrabungsorten sein, an denen man mich nicht belangen konnte. Und tatsächlich setzte ich mich durch und begann, Archäologie zu studieren. Ich studierte drei Jahre an der Universität. Noch immer interessiert mich die Archäologie sehr, und die Systeme und Vorgehensweisen, die ich im Zusammenhang mit Ausgrabungstechniken gelernt habe, helfen mir heute bei der Erstellung meiner Kollektionen. Denn zunächst wage ich einen punktuellen Blick in die Tiefe, wie es die Archäologen tun, um einen qualitativen Eindruck von der Ausgrabungsstätte zu bekommen. Erst dann beginne ich damit, das ganze ‚Feld‘ zu beackern. Ich glaube, dass Bildung, welcher Art auch immer, dich zu einem besseren Menschen macht. Sie ist die Grundlage für deine Persönlichkeit, egal, welchen Beruf du später ausübst.
Du wechseltest zunächst zur Kunsthochschule. Wie kamst Du zur Mode zurück?
Als 19 Jähriger kehrte ich zurück zur Mode. Ich wusste, dass ich mit diesem Business nicht nur mich, sondern auch meine gesamte Familie beschäftigen und ernähren konnte. Schließlich hatten sie alle im Atelier meines Vaters gearbeitet und waren perfekt ausgebildet und eingespielt. So entwickelte ich mit meinem besten Freund, Tuncay Yıldız, der auch heute noch mit mir zusammenarbeitet, eine Hosenkollektion, die ich bei einem türkischen Designwettbewerb einreichte und die auf Anhieb ausgezeichnet wurde. Ich hatte verstanden, dass Mode mein Schicksal ist. Das Leben hat meinen Beruf für mich ausgesucht.
Woher nimmst Du Deine Inspiration?
Auch hier sind es disziplinübergreifende Einflüsse. Mode oder Trends inspirieren mich nie. Die Geschichte, die Kunst und einmal mehr die Archäologie sind wichtige Impulsgeber. Dass manche Menschen der Mode überdrüssig werden, kann ich nicht nachvollziehen. Das passiert meiner Meinung nach nur, wenn man zu sehr den immer wechselnden Trends hinterherhechelt.
Deine Kollektionen weisen Elemente anatolischer Kleidung auf, beispielsweise Deine Hosen. Welche Rolle spielt die Türkei als Deine Heimat für Dich als Designer?
Ich mag keine nationalen kulturellen Bezüge, das ist mir zu eng gedacht. Wir sind momentan auf der Suche nach außerirdischem Leben. Warum sollte man da in so strikten Kategorien wie einzelnen Staaten oder Völkern denken? Die Menschen begeben sich auf große Fahrt, um ein neues, schöneres Leben zu finden, Ländergrenzen lösen sich dadurch auf. Insofern fühle ich mich weniger als Türke und mehr als Weltbürger. Anatolien lag lange Zeit an einer der wichtigsten Transportrouten, hier mischten sich so viele Völker. Das beeinflusste die Kultur, die Zivilisation – und das spiegelt sich in meiner Kollektion. Es ist aber nur ein Aspekt unter vielen. Ebenso inspiriert mich beispielsweise Karl Valentin, der erste Stand-up-Comedian, oder die französische Künstlerin Camille Claudel, die als Assistentin von Rodin arbeitete. Ich habe die Briefe gelesen, die sie während ihres vierjährigen Aufenthalts in der Psychiatrie geschrieben hat. Ich dachte dabei an vieles, aber keine Sekunde an ihre Nationalität. Für mich ist Camille Claudel eine Künstlerin, die die ganze Welt beeinflusst hat, genauso wie Karl Valentin. Kunst ist weltumspannend und kennt keine Nationalitäten. Dennoch mag ich folkloristische Elemente, denkt man sie sich ohne Farben. Die Formen folkloristischer Kleidung ähneln sich erstaunlicherweise oft, egal, ob sie aus Japan, China, vom Balkan oder aus Anatolien kommt. Hauptunterschiede sind eher die Muster und Farben. Und die lasse ich gerne weg.
Ja, es fällt auf, dass Deine Kollektion fast ohne Farbvariationen oder Muster auskommt.
Farben lenken meiner Meinung nach zu sehr vom Wesentlichen ab. Folklore plus Farbe ist Kitsch. Ich mag es, meine Entwürfe ‚nackt‘ zu zeigen. Der Schnitt und alle handwerklichen Details kommen nur so zur Geltung, sie gehen unter, wenn sie mit bunten oder gemusterten Stoffen kombiniert werden. Ich liebe diese handgestickten Details der anatolischen Schneidermeister, mit denen sie Hosen und Jacken in einzigartige Meisterstücke verwandeln.
Was hat Dich für Deine neue Kollektion inspiriert?
In den letzten zehn Jahren wurde ich oft von Menschen inspiriert. Ich bin nicht religiös und dem Leben sehr zugewandt, aber trotzdem fasziniert mich zum Beispiel die Lebensweise der Amish People. Ich frage mich: Gibt es jemanden auf der Welt, der es schafft, gänzlich unbeeinflusst vom Fortschritt sein Leben zu leben? Da kommen mir diese Leute in den Sinn. Es gibt einen tollen Film von 2004 dazu, namens ‚The Village‘ – in deutscher Fassung ‚Das Dorf‘ –, der mich sehr inspiriert hat. Daneben sind es Künstler wie der Komponist Tschaikowski oder die Schriftstellerin Sylvia Plath, die meine Mode beeinflussen. Generell faszinieren mich starke Frauen. Ich glaube, in dieser Welt ist das Leben vieler Frauen sehr hart. Ich kann als Mann nicht wirklich nachvollziehen, was es bedeutet, eine Frau zu sein, daher gilt den starken Frauen mein besonderes Interesse.
Was ist Dein Lebensziel?
Wir wollen am liebsten in jeder Stadt der Welt einen Laden haben! (lacht) – Ich glaube an Gott, ohne einer Religion anzugehören, doch die Welt gleicht für mich einer Komödie: Die Menschen denken, ihnen gehört die Welt. Das finde ich seltsam, ja fast komisch. In diesem Jahrhundert, in dem die Grenzen zwischen Völkern und Kulturen fallen, möchte ich am liebsten omnipräsent sein und mit allen Menschen durch meine Mode in Kontakt treten. Und ich möchte mehr Bücher lesen und schöne Dinge kreieren. Wir sind bereits auf dem richtigen Weg – das macht mich sehr glücklich. Die Geschäfte laufen gut, und mit jeder Saison verstehen mehr Menschen unsere Botschaft.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg.
Gallery Magazine
01—2016