Berlin-Mitte an einem Montagnachmittag. Der späte März hat klirrende Kälte im Gepäck. Leichtfüßig läuft Max Raabe die Treppen zum Spiegelsaal von Clärchens Ballhaus hinauf, nimmt immer zwei Stufen auf einmal und tritt federnden Schrittes durch die Schwingtür des geschichtsträchtigen Tanzhauses. Wie Mitte fünfzig sieht der Berliner Bariton wahrhaftig nicht aus, eher jungenhaft, wie ein für seine Streiche berüchtigter Sextaner, der die Schulglocke überhört hat. Keine Frage, der Mann ist in Form. Die hilft ihm auch bei seinem Tour-Marathon. Gerade ist er aus Wien zurückgekehrt, wo er mit seinem Palast Orchester an zwei Abenden die Stadthalle füllte. Ab morgen wird er für sechs Auftritte in Folge auf der Bühne des ausverkauften Berliner Admiralspalasts stehen, danach warten die USA. Ob die gute Kondition vom ausgiebigen Fahrradfahren kommt, das er auf seiner jüngsten Single besingt?
Herr Raabe, auf Ihrer neuen Single singen Sie ein Loblied auf das Fahrradfahren: „Manchmal ist das Leben ganz schön leicht, zwei Räder, ein Lenker und das reicht.“ Haben Sie das schon immer so empfunden?
Ich bin ja auf dem Land aufgewachsen. Da war Radfahren eine Selbstverständlichkeit. Wenn ich einen Freund anrufen wollte, hat meine Mutter immer gesagt: Wozu das denn? Fahr doch mit dem Fahrrad vorbei! Das war bei uns eine ganz pragmatische Angelegenheit.
Sie sind heute mit einem Herrenrad aus den 50er-Jahren ohne Gangschaltung gekommen. Was gefällt Ihnen an diesem Fahrrad?
In erster Linie, dass es fährt! Es stand monatelang an der Ecke Friedrichstraße/Torstraße und war eine Ruine. Als ich einmal von einer langen Tour zurückkam, und es immer noch da war, habe ich es mitgenommen. Obwohl das Hinterrad fehlte. Ich habe es dann von einem Fachmann aufbrezeln lassen.
Originalgetreu?
Nein. Ich will nicht, dass meine Fahrräder zu gut aussehen. Sonst werden sie schnell geklaut.
Radeln Sie täglich? Sommers wie winters?
Ja. Außer wenn es glatt ist oder tagealter Schnee liegt. Aber das hat für mich weniger sportlichen Charakter, es hat eher mit meiner Faulheit zu tun. Wenn ich Fahrrad fahre, muss ich nicht laufen.
Die Sorge um die Stimme fährt nicht mit?
Das große Geheimnis ist: Beim Fahrradfahren die Klappe halten und nicht singen! Tatsächlich erkälte ich mich nie, bloß weil es kalt ist, sondern nur wenn ich in Räumen mit Klimaanlage eingesperrt bin.
Das Stück „Fahrrad fahr’n“ ist das schnellste auf der Platte. Sie sollen ein rasanter Fahrradfahrer sein. Ihr Musikerkollege Achim Hagemann behauptet sogar, dass Sie fahren wie ein Henker.
Na, ich würde sagen: Ich fahre flüssig! Aber dabei immer rücksichtsvoll. Außerdem ohne Gangschaltung. Wie schnell kann man da schon werden?
Warum ein Lied über das Fahrradfahren?
Das war die Idee von Achim Hagemann und ist inspiriert vom Kraftwerk-Stück „Tour de France“, das auch so ein gutes Tempo hat, allerdings ohne Text auskommt. Zu Anfang hatten wir ein richtig albernes Verkehrskasper-Stück im Sinn, haben uns dann aber doch etwas zurückgenommen. Jetzt ist das Stück eleganter.
Haben Sie eine Lieblingstour? Ein Ausflugsziel hier in der Gegend?
Im Sommer fahre ich gerne zu Biergärten. Und man kann mit der S-Bahn ja auch ziemlich weit aus Berlin rausfahren und dann von dort aus losradeln. Das mache ich auch manchmal.
Welche Gefahren birgt der Berliner Straßenverkehr? Gibt es Strecken, die Sie meiden? Haben Sie einen konkreten Wunsch für die verkehrstechnische Zukunft?
In Berlin ist ja schon einiges im Werden, man billigt den Radfahrern hier inzwischen mehr Raum zu. Wir sind zwar noch nicht so gut aufgestellt wie in Kopenhagen, aber auf dem richtigen Weg. In Dänemark ist die Situation natürlich luxuriös. In Berlin gibt es sehr viele Porschefahrer auf Rädern, und man muss auf der Straße schon aufmerksam sein, um lebend von A nach B zu kommen. Rücksichtlosigkeit unter Fahrradfahrern ist hier genauso verbreitet wie unter Autofahrern.
Sie wirken immer so entspannt. Geraten auch Sie beim Fahrradfahren mal in Rage?
Ja, natürlich. Beim Radfahren, aber mehr noch im Auto. Meine Devise ist jedoch: Wer blinkt, darf alles. Trotzdem bin ich in manchen Situationen ungeschmeidig. Ein Wesenszug, der mir selbst unangenehm ist. Und die Aufregung lohnt oft nicht. Neulich hat mich jemand angeblafft, da dachte ich schon, ich hätte etwas falsch gemacht. Stattdessen hat er mir hinterhergerufen: „So jeht det aba nich, Herr Raabe! Ohne Mütze Fahrrad fahr’n!“
Apropos: Wie gelingt es Ihnen, auf dem Rad elegant und trotzdem funktional gekleidet zu sein? Was tragen Sie bei Wind und Wetter?
Seit ich eine Daunenjacke besitze, bin ich bestens gerüstet. Bis minus fünf Grad. Ehrlich gesagt geht es mir nicht in erster Linie um die Eleganz, sondern vielmehr darum, warm angezogen zu sein.
Sie kommen gerade aus Wien, einer Stadt, in der sich recht gut radeln lässt. Steigen Sie oft aufs Fahrrad, wenn Sie auf Tour sind?
Ja, ich leihe mir gerne ein Rad, um die Städte zu erkunden, in die uns die Tour führt. Auch in Wien hatte ich ein Fahrrad, vom Hotel geliehen, und bin dort herumgeradelt. So ganz optimal finde ich die Verkehrsführung für Radfahrer in Wien aber nicht. Da ist Berlin schon ist um einiges fortschrittlicher.
Sind Sie während einer Tour auf dem Leihrad schon einmal in Versuchung geraten, sich selbst ein neueres Modell anzuschaffen?
Tatsächlich sind die Fahrräder, die in den Hotels verliehen werden, oftmals sehr gut. Auf diese Weise bin ich auch mal mit einem Elektrofahrrad in Berührung gekommen, das fand ich gar nicht schlecht. Ich gebe auch zu, dass ich es manchmal genieße, ein Rad mit mehreren Gängen zu fahren. Aber streng genommen finde ich Gangschaltung unsportlich.
Und ein E-Bike? Käme das für Sie privat infrage?
Nein. Nur wenn ich jeden Tag weite Strecken zurücklegen müsste. Damit meine ich alles, was über eine Stunde geht.
Als Autofahrer haben Sie sich bereits geoutet. Besitzen Sie denn auch ein Auto?
Ja, ich fahre einen himmelblauen VW Käfer von 1968.
Wie stehen Sie zur Diskussion in Deutschland über den Diesel und mögliche Fahrverbote?
Da habe ich eine Gegenfrage: Warum ist der Wasserstoffantrieb eigentlich kein größeres Thema? Ich bin nicht vom Fach, aber so wie ich es verstanden habe, wäre der Vorteil von Wasserstoff, dass man auf die vorhandenen Tankstellen zurückgreifen könnte und außerdem keine seltenen Erden benötigen würde, wie sie für die Batterien eingesetzt werden. Das scheint mir so einfach und naheliegend, aber das Ganze ist anscheinend noch nicht richtig ausgereift.
Welche Rolle könnten Fahrräder in Zukunft spielen?
Wie sähe die Stadt wohl aus, wenn alle, die jetzt das Auto nutzen, aufs Fahrrad umsteigen würden? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich müsste man mehrere Spuren einrichten: für Fahrradkuriere, Familien und Flaneure. Und schon bräuchte es breitere Straßen. Ich würde daher gerne empfehlen, den öffentlichen Nahverkehr intensiver zu nutzen.
Biographie:
Max Raabe, 1962 in Lünen geboren, hat eigentlich schon immer gesungen – im Jugendchor, in der Kantorei und auf dem Fahrrad. Seine Onkel, sonntags oft im eleganten Dreiteiler zu Besuch, sind für Max frühe stilistische Vorbilder. Mit Anfang 20 geht er nach Berlin, studiert dort Operngesang, widmet sich aber lieber dem Schlagerrepertoire der 20er und 30er Jahre. Und kann einige Kommilitonen für seine Leidenschaft begeistern. Mit ihnen gründet er 1986 das Palast Orchester, das ihn bis heute begleitet. „Kein Schwein ruft mich an“, von Raabe komponiert, macht ihn 1992 berühmt.
Über mangelnden Zuspruch kann Max Raabe sich seither nicht mehr beklagen, sorgt er doch für weltweit ausverkaufte Häuser. Seine legendären Konzerte in der New Yorker Carnegie Hall, Bühnenauftritte wie in „Der blaue Engel“ von Peter Zadek und einige Filmrollen gehören zu den Höhepunkten seiner Laufbahn. Die 2010 in Zusammenarbeit mit Annette Humpe entstandene Platte „Küssen kann man nicht alleine“ erhielt Platin, „Für Frauen ist das kein Problem“, zwei Jahre später von dem Duo veröffentlicht, wurde mit Gold ausgezeichnet.
Einfach mal den Stecker ziehen, das empfiehlt uns Max Raabe auf seinem Ende Oktober 2017 erschienenen, jüngsten Album. „Der perfekte Moment – wird heute verpennt“, so der Titel der Platte, lädt unter anderem zu einer flotten Fahrradtour ein. Die nach dem zweite Singleauskopplung heißt „Fahrrad fahr’n“ und ist das schnellste Stück auf dem Album, in dem Max gewohnt elegant über ein rasendes Orchester hinwegfliegt. Entstanden ist die Platte in bewährter Zusammenarbeit mit Annette Humpe, Raabes langjährigem Freund und Kollegen, dem Pianisten Christoph Israel, dem Komponistentrio Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Daniel Faust sowie Achim Hagemann. Das Album ist bereits sehr erfolgreich, die nächste Goldene scheint in greifbarer Nähe.
Foto: Gene Glover
Edison Magazin
Ausgabe 2/2018