In Künstlerkreisen wird Athen als das neue Berlin gepriesen. Die Metropole mit fast vier Millionen Einwohnern, in der Alt und Neu nahtlos verschmelzen, wird von einer Aufbruchstimmung beherrscht, die auf Kreative wie ein Magnet wirkt. Junge Exilgriechen kehren zurück und finden eine Stadt vor, die aus der früheren Not, dem Chaos, eine Tugend gemacht hat. Die Flexibilität, die man in den letzten Dekaden in Athen zum Überleben benötigte, gerät in der beschleunigten Gegenwart zum Vorteil.
Metaphor, der kreative Hub von Yorgos Kelefis, liegt in einer einspurigen Seitenstraße im Stadtteil Kolonaki und ist nur einen Steinwurf von der ikonischen amerikanischen Botschaft und dem legendären Hilton Hotel entfernt. Der Herausgeber des Magazins Ozon, das sich seit 28 Jahren mit internationalem Lebensstil befasst, hat sich hier zusammen mit den Architekten von Pila Studio einen Traum erfüllt: „Seit den späten 1990ern haben wir parallel zur Produktion von Ozon auch Veranstaltungen organisiert“, erklärt Kelefis im minimalistischen Setting seiner multifunktionalen Location. „Mit Metaphor gibt es nun den idealen Ort dafür.“ Gerade wird dieser mit der temporären Weinbar Metafysiko bespielt. Doch der fünfeinhalb Meter hohe Raum beherbergte auch schon Pop-up-Stores, war Präsentationsfläche oder Tagungsstätte. Innerhalb weniger Stunden lässt er sich verwandeln. „Fünfmal jährlich haben wir 3D Athens, eine Veranstaltung für Architekten zu Gast, die ihre neusten Entwürfe vorstellen.“
Kelefis gilt als Kenner der Athener Kreativ- und Designszene. Bei ihm laufen die Fäden zusammen, er hat das Ohr am Puls der Zeit. Und so mag es kaum verwundern, dass der 51-Jährige das junge Architekturbüro Pila Studio mit der Gestaltung des Metaphor beauftragt hatte, noch ehe diese den aufsehenerregenden Zuschlag für eines der spannendsten Projekte im Großraum Athen bekommen sollten: die Neugestaltung eines Hochhauses in Piräus, des sogenannten Piraeus Towers. „Es gibt nur zwei Türme dieses Maßstabes in Athen und Umgebung. Dieser hier, unmittelbar am Fährhafen der Stadt Piräus, ist der zweithöchste des Landes“, erklärt Ilias Papageorgiou von Pila Studio am nächsten Morgen. Yorgos Kelefis hat sich mit der Vespa durch den dichten Verkehr gefädelt, um in Piräus der Galerie The Intermission einen Besuch abzustatten. Bei dieser Gelegenheit könne man den Piraeus Tower persönlich in Augenschein, so sein Vorschlag. Die Fassade des 84 Meter hohen Turms, die von Pila Studio mit hunderten Aluminiumpaneelen verkleidet wurde, glitzert im frühen Sonnenlicht wie die Ägäische See. „Die Paneelen wurden in jeder Etage um 40 Zentimeter versetzt und um wenige Grad gedreht“, erläutert Christina Papalexandri, die Lebens- und Geschäftspartnerin von Ilias Papageorgiou. „So entsteht der Eindruck einer dynamischen Struktur, die sich um das Bauwerk windet. Außerdem wird die Solareinstrahlung kontrolliert.“ Das Paar kam Anfang 2019 aus New York in seine Heimat zurück. „Wir spürten, dass sich in Athen eine kreative Energie entfaltet, und wollten Teil dieses Aufbruchs werden“, sagt Papageorgiou. Für Kelefis ist der Piraeus Tower ein Symbol für die Entwicklung der Hafenstadt, die übergangslos mit Athen verschmolzen ist. „Der Turm wurde der schlafende Gigant genannt. Seit seiner Errichtung 1975 stand er fast vollständig leer. Nur die ersten drei Etagen des 22-stöckigen Gebäudes wurden zeitweilig genutzt.“
In einige Hallen, die ehemals der Tabakindustrie als Lager dienten, sind in den letzten sechs Jahren Galerien eingezogen. Rodeo war die erste, es folgten Carwan und The Intermission. The-Intermission-Gründerin Artemis Baltoyanni pendelt zwischen Athen und Los Angeles, Savvas Sagioglou unterstützt sie bei ihrer Arbeit. „Die Inhaber der Galerien sind befreundet und stimmen sich ab“, sagt er. „Wenn hier eine Vernissage stattfindet, hält die Athener Kunstszene Hof. Dann verwandelt sich die verschlafene Polydeukous-Straße in einen Open-Air-Treffpunkt – manchmal sind 800 Leute da!“ Im Logo von The Intermission, das auf der puderfarbenen Fassade prangt, mischen sich arabische mit griechischen Buchstaben. „Unser Ziel ist eine dynamische Zusammenarbeit. Wir repräsentieren die Künstlerinnen und Künstler nicht, sondern helfen ihnen, neue, spezifische Projekte umzusetzen, auch bei uns vor Ort“, erklärt Sagioglou und weist auf die Farbspuren auf dem Betonboden, die von vergangenen Kollaborationen erzählen. Noch scheinen die umliegenden Straßen im Dämmerschlaf zu liegen, doch hier und da deuten neu eröffnete Kaffeebars und Concept Stores darauf hin, dass Piräus dabei ist, sein raues Hafenimage abzulegen.
Yorgos Kelefis, der 1990 für sein Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaften von Thessaloniki nach Athen kam, arbeitete selbst einige Jahre im Kunstbetrieb und war früher Zeuge einer kreativen Metamorphose. Als das EMST, das Nationale Museum für Zeitgenössische Kunst, in der ehemaligen Athener Brauerei Fix gegründet wurde, übernahm er die PR-Arbeit. Noch immer fasziniert ihn der lang gestreckte Bau zwischen der Kallirrois- und der Amvrosiou-Frantzi-Straße, der 1957 im Auftrag der Bierbrauer von Takis Zenetos, einem bedeutenden Vertreter der griechischen Nachkriegsmoderne, in Zusammenarbeit mit Margaritis Apostolidis gebaut wurde. „Kurz vor der Jahrtausendwende sollte das Gebäude abgerissen werden. Nach langen Kontroversen musste es aber dann nur zur Hälfte einer Tiefgarage und einer neuen U-Bahnstation weichen“, sagt Kelefis. Im Zuge seiner neuen Nutzung wurde der verbliebene Rest des Gebäudes radikal umgestaltet und erhielt eine mit grob behauenem Marmor verkleidete Fassade.
Für Kelefis ist das Kunsthaus auch deshalb ein Wahrzeichen – architektonisch und kulturhistorisch. „Dass die Kunstszene sich gegen den geplanten Abbruch des Gebäudes durchgesetzt hat, war ein wichtiges Signal. 2017 war das EMST dann Hauptausstellungsort der Documenta 14.“ Das flache Dach des Museums hat die Ausmaße eines halben Fußballfeldes und bietet einen Panoramablick über die Stadt – von der Akropolis im Norden bis hin zum Stavros-Niarchos-Park im Süden. „Wenn im Museum Eröffnungspartys stattfinden, verwandelt sich die Terrasse in den größten Outdoor-Club der Stadt“, erklärt Kelefis und lässt seinen Blick gen Piräus schweifen, bis hin zu den im Dunst liegenden vorgelagerten Inseln.
Am südlichen Stadtrand, unweit des Meeres, errichtete Renzo Piano 2008 im Auftrag der Stiftung des 1996 verstorbenen, einflussreichen Reeders und Kunstsammlers Stavros Niarchos ein kulturelles Zentrum beeindruckenden Ausmaßes. Die Nationalbibliothek ist hier untergebracht, die Staatsoper, ein Museum. Für Architekturkenner ist der Komplex mit dem 1000 Quadratmeter großen, auf 40 schlanken Säulen ruhenden Dach aus Ferrozement der moderne Antipode der Akropolis. Ein zwischen den Glas-und-Aluminium-Fassaden von Bibliothek und Opernhaus gelegener Aufzug bringt die Besucher in Windeseile auf das Niveau der überdachten Terrasse. Hier, in der Höhe, beginnt eine 20 Hektar große Parklandschaft mit künstlichem Hügel, deren Abschluss im Südwesten das schon heute ikonische Flachdach bildet. „Der Stavros-Niarchos-Park ist ein beliebter Treffpunkt geworden. Man kommt am Wochenende zu Outdoorkonzerten oder zum Picknick zusammen“, sagt Kelefis. Ein gemütlicher Spaziergang und man gelangt auf gewundenen Wegen, vorbei an knospenden Olivenbäumen, duftendem Lavendel, Thymian und Rosmarinbüschen zum Eingang des Kulturkomplexes zurück.
Das antike Gegenüber, die Akropolis, der Sehnsuchtsort, der das Stadtbild beherrscht wie kaum ein Bauwerk in einer Metropole, befindet sich im Stadtteil Plaka. „Anfang März ist es noch nicht überlaufen“, sagt Kelefis. Durch die Propyläen mit der monumentalen Torhalle im Mittelpunkt gelangt man in den einst heiligen Bezirk. Ein Teil des Parthenons, des zwischen 447 und 432 v. Chr. erbauten Tempels der Athena, ist eingerüstet und etliche Meter des Parthenon-Frieses befinden sich seit rund zweihundert Jahren im British Museum in London, ein Streitfall zwischen Griechenland und Großbritannien. Von der alten Agora aus ist Athen gut zu überblicken. Im Vordergrund, am Südhang der Akropolis: das Odeion, ein Theater nach römischem Vorbild, dessen Fertigstellung auf etwa 170 n. Chr. datiert und in dem heute Opern und Konzerte stattfinden. Und in jeder Himmelrichtung: antike Tempel und byzantinische Kirchen inmitten eines grau-weißen Meeres aus mehrstöckigen kubischen Wohneinheiten mit Balkonen. Die sogenannten Polykatoikias sind genormte geometrische Wohnblöcke aus Zement. „Diese Bauform bestimmt die griechische Architektur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Damals drohte die Stadt aufgrund der Landflucht aus allen Nähten zu platzen“, erklärt Kelefis. Gen Süden erhebt sich das Akropolismuseum. Der Entwurf von Bernard Tschumi greift Proportionen und Materialien des Parthenons auf. „Der dritte Stock hat exakt die Maße und Ausrichtung, um den Fries in ganzer Länge zeigen zu können“, sagt Kelefis. In die Diskussion über eine mögliche Rückführung der Skulpturen und Reliefs ist zuletzt Bewegung gekommen, ein konkretes Ergebnis gibt es bislang jedoch nicht. Dessen ungeachtet freut sich das von Glas, Marmor und Beton dominierte Akropolismuseum großer Beliebtheit, insbesondere der schöne Skulpturensaal.
Nur fünf Gehminuten vom Akropolismuseum entfernt, unweit des Hadriansbogens, hat Atalanti Martinou mit Arch die ihr eigene Synthese aus Vergangenheit und Gegenwart geschaffen. Martinou hatte in den USA Kunstgeschichte und Architektur studiert und für das MoMa und Sotheby’s gearbeitet, bevor sie zurück nach Athen kam, um 2019 ihre Non-Profit-Kunstorganisation zu gründen. „Arch verbindet einen Ausstellungsraum, einen Werkstattbereich, einen Vortragsraum, eine öffentliche Bibliothek und eine voll ausgestattete Künstlerresidenz. Katerina Vordoni und Fania Sinaniotou von Vois Architects haben den Balkon des modernistischen Gebäudes, das vormals hier stand, als Ausgangspunkt für die heutige Fassade genommen“, erklärt Martinou. Kelefis kommt oft zu Vernissagen vorbei – zuletzt war es die des Künstlers Polys Peslikas. Der Neubau greift äußerlich Merkmale des Klassizismus und des Art déco der 1930er Jahre auf, während der Ausstellungsraum selbst mit zeitgenössischer Schlichtheit glänzt. Fenster, die sich über die gesamte Höhe des Gebäudes erstrecken, schaffen einen Dialog zwischen dem minimalistischen Raum und der Altstadt von Plaka. „Das, was Atalanti hier geschaffen hat, ist für mich ein Sinnbild des gegenwärtigen und zukünftigen Athens“, sagt Kelefis. Gleich geht es für ihn zurück gen Süden, ans Meer, in das Apartment aus der Feder der Architekten Suzana und Dimitris Antonakakis von Atelier 66, das er bewohnt und das mit der Original-70er-Jahre-Einrichtung einer Zeitkapsel gleicht. „Die Krisen, die Athen durchlitten hat, haben die Stadt und ihre Bewohner widerstandsfähig gemacht. Das Chaos, in dem Athen zeitweilig zu versinken drohte, hat die Flexibilität gefördert.“ Und so erwächst hier nach Wirtschaftskrise und Pandemie eine lebendige Kunstmetropole, nicht zum ersten Mal, wovon allem voran die Akropolis kündet, bröckelndes und dennoch alles überstrahlendes Symbol europäischer Zivilisation. „Schon oft war Athens Geschichte eine Erzählung von Phönix aus der Asche“, sagt Kelefis mit einem Augenzwinkern, setzt sich auf seine Vespa und stürzt sich in die Fluten des Feierabendverkehrs.
Architektur & Wohnen,
Mai/Juni 2024