Die charakteristische, milchig weiß glasierte Keramik von Astier de Villatte ist das geheime Erkennungszeichen der AnhängerInnen einer neuen Salonkultur. In Paris arbeiten rund einhundert TibeterInnen daran, den wachsenden Bedarf der weltweiten Fangemeinde zu befriedigen.
Der Terrakottafladen landet mit einem satten Klatschen auf der Arbeitsplatte. Immer wieder nimmt der tibetische Handwerker mit der blauen Baumwollschürze das teigartig weiche Material an seinen Rändern vorsichtig hoch und lässt das Werkstück auf den Holztisch vor sich hinabsausen. Das ovale Stück Ton wird dünner und dünner. Am Nebentisch drückt eine Mitarbeiterin mit Silikonhandschuhen einen bereits bearbeiteten Fladen in eine Gipsform hinein. Unter ihren Händen fügt sich die graubraune Tonerde bereitwillig in die Mulden der Form. Die Keramikerin arbeitet gerade an einem tiefen Teller mit Blattdekor. Bevor dieser in seinem Gipsbett trocknet und anschließend in den Brennofen wandert, stempelt sie ihre Initialen auf die Unterseite. Bei Astier de Villatte lässt sich jedes Stück seiner Schöpferin oder seinem Schöpfer zuordnen.
In den Rollregalen der Manufaktur im 13. Arrondissement von Paris warten hunderte Keramikrohlinge auf ihre Weiterreise. Vom Trocknungsregal geht es in die Brennöfen, von den Brennöfen zum Glasurbad, danach wieder in die Brennöfen. Manche Stücke werden im Anschluss von Hand bemalt. Zwei Wochen kann es dauern, bis eines der Teile diesen Produktionsparcours absolviert hat. 3000 Objekte, Teller und Tassen, Schüsseln und Schalen, Terrinen und Krüge, aber auch Dosen und Vasen, Etageren und Kerzenleuchter entstehen hier pro Woche. Die Pandemie hat die Auftragsbücher des Pariser Unternehmens überquellen lassen und die Nachfrage nach der nostalgischen Keramik von Astier de Villatte ist auch danach nicht abgeebbt. Deshalb haben die Gründer 2022 eine weitere Etage des postmodernen Gebäudes am Boulevard Masséna übernommen und die Fläche des Firmensitzes auf nunmehr 1000 Quadratmeter erweitert.
Vor den Fenstern tost vierspurig der Verkehr, in den Werkstätten herrscht konzentrierte Ruhe, akzentuiert vom sachten Klopfgeräusch, welches das Einformen der Terrakottafladen begleitet, dem leisen Schleifton, verursacht durch das Schmirgeln der Kanten, und dem Zischen einer Pressluftdüse. Eine fast klösterliche Andacht, ab und an unterbrochen durch den Aufprall des Tons auf dem Tisch. Etwa einhundert Tibeter arbeiten hier und tatsächlich haben einige von ihnen einen Teil ihres Lebens hinter Klostermauern verbracht. „Es fing mit einem tibetischen Mitarbeiter an“, erinnert sich Benoît Astier de Villatte, dunkelblauer Pullover mit V-Ausschnitt über einem blaugrauen klassischen Hemd, und krault seinem Mops Avril das geschoppte Nackenfell. „Dann kamen immer mehr Freunde und Verwandte nach.“ Inzwischen könnte man die Belegschaft eine kleine tibetische Gemeinde nennen. Gibt es eine ausgewiesene Keramiktradition in der Himalayaregion? „Das nicht“, erklärt Astier de Villatte. „Aber es gibt sogenannte Torma, aus Butter und Mehl geformte, reich verzierte Skulpturen, die Teil der religiösen Riten in den tibetischen Klöstern sind. Manche unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben ihre Geschicklichkeit wohl der Arbeit an diesen Skulpturen zu verdanken.“ „Eine handwerkliche Ausbildung müssen sie jedoch nicht unbedingt mitbringen“, ergänzt sein Partner Ivan Pericoli, einen beigen Cardigan mit Zopfmuster trägt, dazu Jeans. „Die steht der kreativen Freiheit bisweilen sogar im Weg.“
In der neuen Glasurabteilung werden die einfach gebrannten Stücke in hüfthohen Wannen mit milchiger Flüssigkeit gebadet. Der weiße Staub, der den Boden, die Regale und bald auch die Pfoten von Avril bedeckt, entsteht beim Trocknen der Glasuren. Voll beladene Rollregale mit schneeweißem, frisch getauchtem Geschirr gleißen vor den großen Fenstern in der Nachmittagssonne. Drei Mitarbeiter manövrieren eines der Regale mit großer Umsicht in einen der acht zusätzlich angeschafften Brennöfen. 24 Stunden bleibt es dort, die Temperatur wird schrittweise auf bis zu 1000 Grad erhöht. Das Abkühlen geschieht ebenso behutsam. „Selbst nach dem Brennen kann noch etwas schiefgehen: Man öffnet die Tür zu schnell, die Glasuren springen und die ganze Charge ist hinüber“, erklärt Pericoli, als er seinem Kompagnon auf dem Rückweg ins Erdgeschoss die schwere Eisentür aufhält und den Lift anfordert.
„Früher war das Pariser Becken für diese dunkle Terrakotta bekannt und wir hatten einen einzelnen Zulieferer aus der Gegend. Doch unser Bedarf ist so sehr gewachsen, dass wir das Rohmaterial nun von einem Familienunternehmen aus der Normandie beziehen“, sagt Pericoli und weist auf die Regale mit dem in Plastikfolien feucht gelagerten Ton. „Für Geschirr wurde dieser spezielle Werkstoff früher übrigens nicht verwendet, eher für Skulpturen. Während unseres Studiums an der Pariser École des Beaux-Arts brachte uns unser Lehrer Georges Jeanclos-Mossé darauf, mit dem Material zu experimentieren.“ „Mein Vater Pierre Carron war ebenfalls Lehrer an der École. Er unterrichtete Malerei“, fügt Astier de Villatte hinzu. „Gemeinsam mit Jeanclos-Mossé reiste er zu Fortbildungszwecken bereits in den 1960ern nach Rom und begab sich in die Académie française in der Villa Medici. Damals begeisterten sich die Künstlerkollegen für die Gipsabdrucktechnik, die in der römischen Antike allgegenwärtig war.“
Doch nicht nur durch diese historischen Bande reicht der Einfluss der Villa Medici in die Gegenwart der Pariser Marke. „Als mein Vater einst mit unserer Familie die Académie française besuchte, war der französische Maler Balthus ihr Direktor. 15 Jahre lang lebte er dort mit seiner jungen japanischen Frau Setsuko. Ich war damals noch ein Baby und habe keine Erinnerung daran, aber dennoch haben sich unsere Wege in Rom gekreuzt. So viel ist sicher“, erinnert sich Astier de Villatte mit einem Schmunzeln. Heute ist Setsuko, mit vollem Namen Setsuko Klossowska de Rola, selbst Künstlerin und Schriftstellerin, eine wichtige Kollaborationspartnerin von Astier de Villatte. „Als Setsuko 2012 zum ersten Mal als Besucherin in unsere Manufaktur kam, haben wir festgestellt, dass sie eine besondere Affinität zu dem Material Ton hat, und wir beschlossen zusammenzuarbeiten. Zunächst entwickelten wir eine Tafelserie, die von der Villa Medici inspiriert ist, eine Hommage an den Ort unserer ersten Begegnung, dann eine Serie mit Pflanzenmotiven, die mit Setsukos Wohnort in der Schweiz in Verbindung steht“, sagt Astier de Villatte, während er an einer langen Reihe von Lagerregalen vorbeischreitet, in denen die fertigen Produkte auf ihre Auslieferung warten.
Setsuko hat ein eigenes Atelier im Erdgeschoss. Um ihren flaschengrünen Kimono zu schützen, hat sie eine gestreifte Jacke mit weiten Ärmeln übergeworfen. Vor ihr auf dem Tisch die Keramikskulptur einer Katze – ein wiederkehrendes Motiv im Hause Klossowska de Rola, das auch schon Balthus beschäftigte. Drei solcher Katzenskulpturen werden von ihr bemalt. Sie sind für eine Ausstellung in Japan bestimmt. „Ich pendle zwischen der Schweiz und Frankreich“, sagt die Künstlerin. „Etwa zwei Wochen pro Monat bin ich hier in Paris.“ Dann entstehen neben den gemeinsamen Kollektionen für Astier de Villatte auch ihre Kunstwerke. In einer Ecke des Ateliers wächst einer ihrer Keramikbäume in den Himmel. Unter dem Titel „Into Nature“ hat sie die entsprechende Serie bereits 2023 bei Gagosian in Gstaad gezeigt.
Wo verläuft bei Astier de Villatte die Trennlinie zwischen Kunst und Objekt? „Kunst hat für mich mit Genialität zu tun. Wir sind lediglich auf der Suche nach Schönheit“, sagt Pericoli nonchalant. Dabei lassen sich er und Astier de Villatte von nahezu alle Epochen inspirieren. „Bis zurück in die Jungsteinzeit“, wie Pericoli mit einem Augenzwinkern anmerkt. 2500 verschiedene Produkte sind in den letzten 28 Jahren seit der Firmengründung entstanden. Wird auch einmal etwas aus dem Programm genommen? „Nein, eher selten. Wir wollen ja, dass unsere Kunden ihre Teller immer nachbestellen können.“
Eine ihrer ersten Kundinnen, Sue Fisher King aus San Francisco, habe Astier de Villatte 1996 auf der Pariser Messe Maison&Object entdeckt und schon bald nach der Auslieferung angerufen. „‚George Lucas steht hier in meinem Laden. Er hat die Teller gekauft und gefragt, wo die dazugehörigen Tassen sind‘“, sagte sie. ‚Wir haben keine Tassen‘, erwiderten wir“, erinnert sich Pericoli mit einem Grinsen. „Mrs Fisher ließ jedoch nicht locker. Sie rief so oft an, dass bei uns keiner mehr ans Telefon gehen wollte. ‚Wo bleiben die Tassen?!‘ Irgendwann haben wir dann nachgegeben und Tassen produziert.“ Isabelle Adjani, die der Duftkerze „Edinburgh“ mit dem Odeur eines schottischen Schlosses verfallen war, wollte eine Petition ins Leben rufen, um zu verhindern, dass das Produkt aus dem Programm genommen wurde. Anna Wintour wünschte sich eine Kaffeekanne – und bekam sie. Der argentinische Starkoch Francis Mallmann schwört auf Astier de Villatte und serviert sämtliche Speisen auf der Pariser Keramik.
Woran liegt es, dass sich alle Welt die Finger nach dem handgemachten Geschirr leckt? „Speisen sehen auf unseren Tellern sehr attraktiv aus. Unsere Glasur ist reinweiß. Weil man manchmal kleine Tropfen in dieser Glasur sieht, wurde das früher nicht praktiziert. Wir pfeifen jedoch auf diese kleinen Unregelmäßigkeiten. Denn das strahlende Weiß gibt sein Licht und seinen Glanz an das Essen ab“, sagt Astier de Villatte und nimmt sich eine Praline mit Katzenkonterfei von einem kleinen Teller auf Setsukos Arbeitstisch. Die geheime Leidenschaft des Namenspatrons – sie gilt der französischen Chocolaterie von Au Chat Bleu.
Architektur & Wohnen,
Mai/Juni 2024