Es ist die Geschichte seines Gesamtwerks, die der Fotograf Peter Lindbergh noch erzählen wollte. Bis kurz vor seinem Tod im September 2019 arbeitete er an der Ausstellung ‚Untold Stories‘, der ersten und einzigen Bilderschau, die er jemals kuratiert hat. Der Düsseldorfer Kunstpalast zeigt vom 5. Februar bis 1. Juni 2020 bislang ungesehene Aspekte von Lindberghs Arbeit, die das breite Spektrum seines Œuvres veranschaulichen. Und ein überraschendes Vermächtnis.
Er war ein großer fotografischer Erzähler. Die epischen schwarz-weißen Bilderstrecken, die Peter Lindbergh an weiten Stränden, in New Yorker Straßenschluchten, auf Fabrikgeländen oder in düsteren Hafengegenden entstehen ließ, wurden seitenweise in Magazinen wie Vogue und Harper’s Bazaar gefeiert. Claudia, Tatjana, Linda, Christy, Naomi – der Deutsche verwandelte Models in Marken und Frauen in Ikonen. Darüber herrscht im Modekosmos Konsens: Peter Lindberghs Fotografien haben die Welt verändert, das von ihm in den frühen Neunzigern geschaffene Bild von Weiblichkeit in Gestalt einer offenen, natürlichen und abenteuerlustigen Frau hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.
Doch wie sah er selbst seine Arbeit? Bedeutete ihm das Gegenüber nicht viel mehr als die Mode, die vermeintliche Klammer seines Lebenswerks? Lindberghs sinnliche, von Intimität und Vertrauen durchdrungene Bilder lassen es vermuten. Was würde er seinem Publikum als sein Best-of präsentieren? Noch nie hatte ihm jemand diese Frage gestellt, bis Felix Krämer, seit 2017 Direktor des Düsseldorfer Kunstpalasts, dem Fotografen Carte blanche für eine Ausstellung gab. Retrospektive mochte Lindbergh es nicht nennen. Dafür fühle er sich noch zu jung, meinte der 72-Jährige im Jahre 2017 scherzhaft.
In den beiden Folgejahren durchkämmte Peter Lindbergh sein Archiv, um aus Hundertausenden von Bildern die zehn Dutzend herauszusieben, die für ihn am wichtigsten waren. Fotografien, die er bislang nie gezeigt hatte, drängten sich in den Vordergrund. Eine im Halbschatten liegende Uma Thurman von 2016, die ungestylte, dunkelhaarige Claudia Schiffer von 1997 und Naomi Campbell, 2000 auf Ibiza, mit unretouchierten Narben im Gesicht. Doch auch seine teils weltberühmten Aufnahmen sind zu sehen. „Es war eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod“, wird Lindbergh im Ausstellungskatalog zitiert, eine Aussage vom Juli 2019, die deutlich macht, wie mühevoll es für ihn gewesen sein muss, eine finale Auswahl zu treffen. Wie schnell der Tod ihn in Realität einholen würde, hatte der stets vital wirkende Lindbergh damals wohl noch nicht geahnt.
Oder doch? ‚Testament‘ heißt ein Teil seiner Schau, die einen sehr untypischen Lindbergh offenbart. Mehr denn je überschreitet er darin den Kontext von Modefotografie und zeitgenössischer Kunst. Die Videoarbeit von 2014 zeigt einen Insassen einer Todeszelle, der sich 30 Minuten lang im Spiegel beobachtet. Der Film ist ergreifend, der Blick des Häftlings schwer auszuhalten. Auch als Dokumentarist abseits der Modewelt legt Lindbergh Menschliches offen, ohne es bloßzustellen. Introspektion, Ausdruck, Empathie und Freiheit waren die Themen, die ihn Zeit seines Lebens beschäftigten. „Letztlich behandelt der Film die Unmöglichkeit, wirklich frei zu sein“, sagt er im Interview mit Felix Krämer. Der gebürtige Duisburger war auch ein politischer Mensch, er wollte unter die Oberfläche dringen, das wird durch ‚Testament‘ ganz besonders greifbar.
Als eines der bislang unveröffentlichten Werke zählt ‚Testament‘ zu den titelgebenden ‚unerzählten Geschichten‘ der Ausstellung im Kunstpalast Düsseldorf. Lindbergh hat die letzten Wochen seines Lebens an dieser Retrospektive gearbeitet, genau sechs Tage vor seinem Tod konnte er sie fertigstellen. Dass er dabei ausgerechnet dieser Arbeit so viel Platz einräumte, könnte das eigentliche Vermächtnis von Lindbergh sein.
Was ist Modefotografie? Was sollte sie sein? Diese Fragen stellte sich Lindbergh bis zuletzt. Mit der persönlichsten Ausstellung, die es bisher von ihm zu sehen gab, gibt er diese Fragen nun an sein Publikum weiter.
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Februar 2020