Tequila ist ein Schnaps mit einem roten Plastiksombrero, der reuevolle Katertage im Schlepptau hat? Das ist überholt. In Mexiko produziert man heute edle Terroir-Spirituosen, die mit großem Aufwand destilliert werden.
Die Straße zwischen La Estancita, einem Dorf am Fuße des Vulkans Tequila, und der Destillerie von Volcán de mi Tierra in Huaxtla zieht sich schnurgerade durch die weite Landschaft. Wenn einer der schwer beladenen Monstertrucks auf der Gegenfahrbahn vorbeiprescht, wirbeln meterhohe Staubwolken auf. In der Ferne steigen Rauchsäulen in den diesigen Himmel. Dort verbrennen die Bauern auf ihren Feldern vor der Ernte die welken Blätter des Zuckerrohrs. Am Horizont, nur schemenhaft im Dunst, die Sierra Madre Occidental, die den mexikanischen Bundesstaat Jalisco von der pazifischen Küste trennt.
Die staubigen Straßen lassen es erahnen: Gerade einmal zwei Wochen im Jahr fällt hier etwas Regen. Die Erde, insbesondere die rund um den Vulkan Tequila, der vor 200 000 Jahren zuletzt ausbrach, ist locker und durchlässig, was das Wasser schnell versickern lässt. Doch die Agave liebt es so. Weite Felder der sogenannten Blauen Weber-Agave säumen die Straße. Die nach dem französischen Arzt und Botaniker Frédéric Albert Constantin Weber benannte Sukkulente reckt ihre dickfleischigen, sich zu spitzen Dornen verjüngenden Blätter stolz in die Luft – als wäre der Pflanze bewusst, dass die aus ihr gewonnene Spirituose Nationalgetränk und einer der größten Exportschlager des Landes ist.
Doch so sehr der Agavenschnaps Tequila zum alkoholassoziierten Allgemeinwissen zählt – in der Vergangenheit war es um sein Image nicht überall zum Besten bestellt. Mit rotem Plastiksombrero bemützte Flaschen und daraus eingeschenkte Shots, mit Salz und Zitrone oder Zimt und Orange heruntergestürzt, sind fast schon ein Synonym für studentische Partysünden, an die sich so mache/r nur ungerne erinnert. Dass der Agavenschnaps sich in den letzten Jahren zu einem Getränk gemausert hat, das in eigens eröffneten Mezcalerien geradezu zelebriert wird, ist eine Entwicklung der jüngeren Zeit und der Grund, weswegen wir hier sind: um am Beispiel einer traditionsreichen, aber experimentierfreudigen Destille dem Prozess der Tequila-Gewinnung und somit dem feinen Unterschied nachgehen.
„Mezcal und Tequila werden beide aus dem Saft der Agave gewonnen. Bei Mezcal handelt es sich um einen Schnaps, der aus wilden Agaven hergestellt wird. Diese wachsen in neun mexikanischen Bundesstaaten und wir unterscheiden rund 200 Arten. Tequila hingegen ist ausschließlich ein Produkt der Weber-Agave“, erklärt uns Carlos Crain, knapp zwei Meter groß. Der Sohn eines Österreichers und einer Mexikanerin, dessen kantig geschnittenes Gesicht von einer American-Football-Basecap beschattet wird, führt uns in österreichisch gefärbtem Deutsch in die Welt der mexikanischen Tequila-Produktion ein. Als jahrzehntelanger Freund der Inhaberfamilie Gallardo, die sich mit Volcán de mi Tierra einen Namen gemacht hat, fungiert er als Botschafter des Unternehmens und nimmt uns heute in Sachen mexikanischer Schnaps an die Hand.
Die Destillerie von Volcán de mi Tierra liegt hinter einem schmucken Tor unweit der Bundesstraße und grenzt direkt an ausgedehnte Felder. Wir folgen Carlos Crain beim Gang über das Gelände. In einer Handvoll Flachbauten finden sämtliche Produktionsschritte statt, vom Kochen bis zur Abfüllung. „Den Namen Tequila dürfen ausschließlich Spirituosen tragen, die in fest umrissenen Regionen hergestellt werden, ähnlich wie es beim Champagner der Fall ist. In Mexiko sind das fünf Regionen und 181 Gemeinden. Davon sind mit 125 die bei Weitem meisten in Jalisco zu finden, acht Gemeinden in Nayarit an der mexikanischen Pazifikküste, sieben im zentral gelegenen Guanajuato, elf in Tamaulipas an der Atlantikküste und 30 in Michoacán im westlichen Zentralmexiko. Doch es gibt auch hier große Unterschiede“, weiht uns unser hünenhafter Führer in die geografischen Grundlagen ein. Nur wenn auf der Flasche „100 % Agave“ und „Hecho en México“ stehe, handle es sich nicht um einen Mixto, einen Verschnitt, der beispielsweise mit Zuckerrohr geblendet wurde. Denn in der Branche sei es ein offenes Geheimnis: So viel Tequila, wie weltweit auf dem Markt ist, könne die Region aus den eigenen Erträgen gar nicht produzieren.
Im Innenhof der Brennerei ist gerade ein Lastwagen angekommen, der mit einem Berg von Piñas, dem Herz der Agave, beladen ist: die Ernte der Jimadores, der Feldarbeiter, die am heutigen Morgen eingebracht wurde. Mindestens sechs Jahre brauchen die Weber-Agaven, um zu reifen – ein ausgereiftes Agavenherz wiegt etwa 35 Kilogramm. Geerntet werden sie sowohl im Hochland als auch auf tiefer gelegenen Feldern, in den sogenannten Lowlands rund um den Vulkan Tequila – ein Unterschied, denn im Hochland sind die Böden rot vom hohen Eisengehalt, die Nächte kalt. In den Lowlands ist die Erde dunkel-vulkanisch und reichhaltig, das Klima trockener. „Die Highland-Gewächse ergeben eine blumig-fruchtige Note, aus den Lowlands rund um den Vulkan Tequila stammen die Agaven mit den würzigen, erdigen Noten, die an Minze erinnern. Die unterschiedlichen Piñas werden getrennt voneinander verarbeitet und später in den verschiedenen Tequila-Sorten der Marke geblendet“, erklärt uns Carlos Crain. „Somit handelt es sich beim Volcán de mi Tierra um einen Terroir-Tequila. Das unterscheidet ihn deutlich vom Gros der mexikanischen Agavenschnäpse.“
Dutzende der schweren Piñas wandern nun auf einem Förderband vor unseren Augen in den Hornos de mampostería, den traditionellen Steinofen, in dem die Agavenherzen im Slow-Cooking-Verfahren 36 Stunden garen. Eine süßlich duftende Rauchfahne, die durch den Kamin entweicht, verrät, dass der Ofen gerade in Betrieb ist. Nebenan wartet die High-Tech-Variante, ein riesiger silberner Dampfgarer, Autoklav genannt, der die Zubereitung beschleunigt, allerdings mit Abstrichen, was das rauchige Aroma betrifft.
Doch nicht nur beim Garen führen im Hause Volcán de mi Tierra unterschiedliche Wege zum Ziel. Auch bei den nachfolgenden Verarbeitungsvorgänge setzt man parallel auf verschiedene Produktionsmethoden. Ein Teil der gegarten Agaven wird mit traditionellen Mühlsteinen aus Vulkangestein gemahlen, ein anderer mit einer hocheffizienten Hightech-Mahlmaschine. Anschließend wird das Produkt zum Teil im Holzfass fermentiert, zum Teil im Stahltank, wobei drei verschiedene Hefen zum Einsatz kommen: eine natürliche, eine Rumhefe und eine Champagnerhefe. Das Ergebnis wird getrennt voneinander jeweils zweifach destilliert. „Dass eine Destille 13 Brennblasen besitzt, ist sehr ungewöhnlich“, erklärt Carlos Crain, als wir an der langen Reihe glänzender kupferfarbener Kessel vorbeigehen. „Andere Erzeuger erlauben sich nicht den Luxus, so viele verschiedene Destillate anzufertigen. Und nur 16 Prozent der existierenden Tequila-Marken unterhalten überhaupt ihre eigene Brennerei.“
Doch was steckt hinter dieser aufwändigen Methode und was geschieht mit den unterschiedlichen Destillaten, die ja nicht nur unter dem Einsatz verschiedenster Technik, sondern auch auf Basis einer heterogenen Ernte entstehen? „Sie werden geblendet, also von einem Maestro Tequilero oder einer Maestra Tequilera in ein harmonisches Mischungsverhältnis gebracht, das den Geschmack und die Qualität bestimmt. So entsteht ein Tequila, der sich fernab der Massenware bewegt.“
Wir verlassen die ebenerdige Produktionsstätte und folgen Carlos Crain eine gemauerte, mit indirektem Licht dramatisch Szene gesetzte Tunnelrampe hinab in das Allerheiligste. Hier, acht Meter unter der Erde, lagern sie: 600 Fässer aus amerikanischer und europäischer Eiche. „Den klassischen durchsichtigen Tequila nennt man ‚Blanco‘. Er wird direkt nach der Herstellung abgefüllt. Etwas dunklere Tequilas lagern für gewöhnlich in diesen Eichenfässern. Tun sie das mindestens zwei Monate, spricht man von einem ‚Reposado‘, bei über einem Jahr ist es ein ‚Añejo‘, ab drei Jahren ein ‚Extra Añejo‘. Durch die Lagerung schmeckt der Tequila weicher, er bekommt auch mehr Holznoten.“ Dass Tequila mit so viel Aufwand produziert wird, ähnlich wie ein Whiskey oder Rum, ist nicht die Regel. Aus eben diesem Grund hat sich auch Moët Hennessy mit der Familie Gallardo zusammengetan, um die hiesige Tequila-Produktion auszubauen und das Erzeugnis weltweit zu etablieren.
Als wir in das Dorf La Estancita zurückkehren, wo sich die Hacienda der Gallardos inmitten weiter Ländereien befindet, färbt sich der Himmel schon rosarot. Das große Farmhaus stammt aus dem Jahr 1704 und beherbergte früher auch einmal eine Destillerie. Heute ist es der Sommersitz der Familie, deren Geschichte bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht, und atmet das Flair eines mexikanischen Western. Am offenen Feuer auf der Terrasse der Hacienda, mit Blick auf den Vulkan, hinter dem gerade die Sonne versinkt, bringt Carlos Crain einen Toast aus. „Salud!“ Wir stoßen an mit einem Extra Añejo, der karamellfarben im Glas schimmert, und nehmen einen winzigen Schluck. Der eichenfassgelagerte Tequila rinnt uns weich und warm die Kehle hinunter. Salz und Zitrone? Fehlanzeige. „Kein Mensch trinkt in Mexiko so Tequila“, lacht er. „Genauso wenig stürzen wir ihn hinunter. Am besten genießt ihr ihn pur und in kleinen Schlucken. Dann könnt ihr auch seine Komplexität erfassen. Denn er ist die flüssige Seele Mexikos.“
The Weekender,
Winter 23/24