Die Äste eines üppig wuchernden Strandflieders schirmen die dunkle Holztür der alten provenzalischen Mas ab. Der Spätsommersonne gelingt es, durch die fedrigen Zweige hindurch helle Punkte auf die rustikale Natursteinwand zu zaubern und ein Empfangskomitee von eintausend Mücken schwirrt um den Busch, als hätten sie vorab von meiner Ankunft erfahren. Ich werde sie enttäuschen müssen, denn ich bin mit jemand anderem verabredet: dem französischen Modedesigner Eric Bergère, der seinen Wohn- und Arbeitsplatz vor den Toren der südfranzösischen Stadt Arles im August wohl oder übel mit diesen ungebetenen Gästen teilt.
Eric öffnet mir die schmale Tür. Er ist 58 und groß gewachsen. Sein dichtes Haar mit Seitenscheitel ist ebenso gepflegt wie der grau melierte Bart. Der Designer trägt eine Hornbrille und ein blau-rot gemustertes Baumwollhemd. Letzteres stammt aus seiner eigenen Kollektion – das ist unschwer an dem indisch inspirierten Mustermix zu erkennen, der typisch für Bergères aktuelle Entwürfe ist.
Eric bittet mich in die geräumige Diele, die auch als Wohnzimmer dient. Auf einem Radassier, wie die traditionellen Canapés aus der Provence heißen, sind übergroße exotisch gemusterte und reich bestickte Kissen drapiert, links daneben steht ein gusseiserner Ofen. In mehreren Glasvitrinen befinden sich kleine Kunstobjekte, Figuren, Schalen, Aschenbecher, allerlei Fundstücke, an der Wand hängt eine Sammlung von Kruzifixen. Eine bunt geflieste Treppe führt nach oben zu den Schlafräumen. Rechterhand ist das ebenerdige Designstudio, links geht es in die Küche. Sie ist der hellste Ort des Hauses, mit Sprossenfenstern und je einer Tür zum Hof und zum Garten. Die übrigen Räume öffnen sich fast alle nach Südosten. So sind sie vor dem Mistral geschützt, der durch den nordwestlich verlaufenden Korridor zwischen den Alpen und den Cevennen hindurchpfeift und unerbittlich kalt sein kann.
Eric bietet mir einen alten weiß getünchten Stuhl am Küchentisch an und entpuppt sich schnell als lebhafter Erzähler. Während er spricht, hält er in der rechten Hand einen Espresso, in der linken ein Glas Wasser und nippt abwechselnd an beidem. Zwischendurch springt er auf, um aus dem Atelier ein Buch oder eine Zeitschrift zu holen, die seine Worte illustrieren. Denn in Bergères Ausführungen geht es oft um Stimmungen, um Kunst und um Geschichte. Und doch ist in seiner Welt alles Form, Material und Farbe. „Die einzige berufliche Alternative zur Mode wäre vielleicht die Innenarchitektur gewesen. Ich arbeite gerne mit den Händen“, sagt Ericmit Blick auf die Holzstühle, die sich um den Tisch gruppieren. „Ein paar Möbelstücke zu streichen ist für mich Entspannung pur.“ Über die Fronten der Küche hat er Dielenhölzer genagelt, was dem Mobiliar einen Hauch Wild-West-Romantik verleiht. Und tatsächlich: New Mexico, genauer gesagt Santa Fe, ist sein Sehnsuchtsort. „Am liebsten würde ich die Küche im Stil eines amerikanischen General Stores gestalten. Ein deckenhohes Regal mit allen Vorräten und einer Leiter, die sich hin- und herschieben lässt.“ Eric schildert seine Interior-Design-Vision so begeistert, wortreich und detailliert, dass ich das Gefühl bekomme, ich müsste mich nur umdrehen und dann stünde sie schon da, die neue Regalwand.
Diese überschäumende Kreativität, sie war schon früh die Grundlage seines Erfolges. Die Karriere des gebürtigen Nordfranzosen verlief rasant. Nach dem Abschluss seines Modedesignstudiums an der Pariser Esmod wurden die Talentscouts von Hermès auf den damals 19-jährigen Klassenbesten aufmerksam. Neun Jahre lang durfte der blutjunge Designer die Prêt-à-porter-Damenlinie des Hauses entwerfen, später wechselte er als Freelancer zu Lanvin und Inès de la Fressange.
1989 lernt Eric in Paris Mario Testino kennen und verliebt sich in den peruanischen Modefotografen. Die darauffolgenden zehn Jahre lebt das Paar in einem spektakulär eingerichteten zweihundert Quadratmeter großen Apartment im elegantesten Stadtteil der französischen Hauptstadt. Ihre schwülstig-bourgeoise Luxuswohnung mit dem radikal schwarz gefärbten Boden und den dunklen Wänden ist die Attraktion in vielen Einrichtungsmagazinen – und ihre dort veranstalteten Diners gelten als legendär. „Für einen Besuch von Madonna mal eben das Esszimmer in Purpur streichen? Kein Problem!“, erzählt Eric lachend von seinen illustren Pariser Jahren. Doch der Traum währt nicht ewig. Mario und Eric trennen sich, und keiner der beiden kann die teure Wohnung halten. Wohin mit all den opulenten Möbeln? 1999 werden sie versteigert. Der „Nachlass von Eric Bergère“ komme unter den Hammer, kündigt damals das Pariser Auktionshaus Drouot die Versteigerung an. „Als ob ich schon das Zeitliche gesegnet hätte“, sagt Eric mit einem Augenzwinkern.
Heute kann er darüber schmunzeln, damals weniger. Eric Bergère hatte 1995 eine eigene Couture-Kollektion ins Leben gerufen, und auch diese Unternehmung stand gerade vor dem Aus. „Ich befand mich in einer Phase des Umbruchs, als meine enge Freundin Françoise Lacroix mir vorschlug, nach Arles zu kommen.“ Françoise, die Frau des Couturiers Christian Lacroix, und Eric hatten sich bei Hermès kennengelernt. Sie war damals Fashion-Direktorin im Luxushaus und hatte den Neuankömmling unter ihre Fittiche genommen. „Françoise und ich kennen uns seit 38 Jahren“, sagt Eric. Eine kleine Ewigkeit. Und ebenso lang währt auch schon seine Liebe zur Camargue, der Heimat der Familie Lacroix, einen Landstrich, den Eric in den letzten vier Jahrzehnten immer wieder besucht hat, auch wegen der Fiestas, der traditionellen Feste und Stierkämpfe, die er seit jeher so beeindruckend findet. Viel Überredungskunst musste die Freundin also nicht aufwenden.
Wir gehen auf Entdeckungstour durch die Mas. Das alte Gutshaus hat mit dem herrschaftlichen Pariser Apartment wenig gemein. Das dokumentieren die Magazinausschnitte, die Eric mir zeigt. Dennoch scheint es ganz offenbar ein Spiegel seiner Seele zu sein. Es ist die Seele eines Sammlers, eines Freigeists, der ein großes Herz für kleine Dinge hat, in jedem Objekt eine Besonderheit und Einzigartigkeit entdeckt. So kann ein Stück Treibholz große Begeisterung bei ihm wecken. Einige Exemplare, die er auf seinen ausgedehnten Strandspaziergängen gesammelt hat, hängen über dem offenen Kamin im Wohnzimmer und sind zu einem Kreuz des Südens formiert – in Erics abstrakter Interpretation. Wir gehen in den ersten Stock, dort ist sein Schlafzimmer, das er eher selten präsentiert. Vis-à-vis des großen Eisenbettes befindet sich das Fenster, links und rechts davon stehen zwei offene Metallregale: die römisch-griechische Abteilung des Hauses. Büsten, Amphoren, Schalen und Teller, antik wirkende Werkzeuge und Steingut. „Nichts in diesem Regal hat mehr als fünf Euro gekostet. Es ist alles Fake – das, finde ich, passt ganz gut zu dem Geschichtskult, der in Arles betrieben wird. Hier in der Camargue treffen zwei Welten aufeinander: die antike, römische Hinterlassenschaft mit den Amphitheatern und Tempeln in Arles und in Nîmes und das raue Landleben der Region, das geprägt ist vom Klima und den Tieren. Den Stieren, den Pferden, den Flamingos. Sogar Cowboys gibt es hier – die Camargue ist der wilde Süden Frankreichs“, erklärt Eric das Spannungsfeld seiner Wahlheimat. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch sein Einrichtungskonzept. Die Mas, die er seit 2010 bewohnt, ist sein privates Heimatmuseum. Denn obwohl der kreative Kopf aus Troyes stammt, einem Städtchen im Nordosten Frankreichs, fühlt er sich der Provence stark verbunden.
Wir gehen wieder hinunter und begeben uns in das Studio. Eine deckenhohe Bücherwand, ein Tisch mit bunten Stoffballen, Kleiderstangen, auf denen Prototypen und Kollektionsteile um Platz rangeln. „Mae West, Katharine Hepburn und Georgia O’Keeffe sind meine Ikonen“, erklärt Eric ungefragt und zaubert im Handumdrehen Bildbände über die drei berühmten Frauen aus dem Regal. Ihre Charaktere – selbstbewusst und unabhängig, gleichzeitig glamourös und burschikos – inspirieren ihn bei seinen Entwürfen. Seine Kollektion verkauft Bergère in der Innenstadt von Arles, wo er ein eigenes Geschäft betreibt. Wie auch seine Mas trägt es den Namen ‚Dou Bouchi‘, was im Südfranzösischen so viel wie ‚Der Verrückte‘ bedeutet. Seit 2012 entwirft der Designer pro Saison rund zwanzig zeitlose Kaftan-Varianten für Frauen und einige Hemden und Hosen für Männer. Die Linie heißt ‚Été Éternel‘ nach dem schier endlosen südfranzösischen Sommer, den er hier genießt. In dieser Saison hat er die Modelle in traditionellen provenzalischen Mustern umgesetzt. „Ursprünglich kamen diese Stoffe aus den indischen Kolonien, daher auch die ornamentalen Paisleymuster und die exotischen Blüten. Über die Jahrhunderte wurden sie Teil der hiesigen Trachten, und heute gelten die bedruckten Baumwollstoffe als typisch für diese Region. Eric liebt es, die verschiedenen Muster zu kombinieren, hat aber auch einige unifarbene Kaftane für weniger Mutige im Programm. Produziert werden sie ‚en France‘, genauer gesagt im benachbarten Wintergarten, wo Erics Angestellter Quentin, 22, ausrasierter Nacken, Bart und Adidas-Trackpants, gerade die lange Seitennaht eines Leinenkleides schließt.
Doch bei aller Liebe zu der rauen Schönheit seiner neuen Heimat – so ganz kann Eric Bergère nicht von Paris lassen. Einmal pro Woche nimmt er von Nîmes aus den schnellen TGV und ist in drei Stunden in der Hauptstadt. Noch immer arbeitet er als Berater und Freelancer, auch immer noch für seine Freundin Inès de la Fressange. Heute ist so ein Paris-Tag, und während des anekdotenreichen Rundgangs ist uns die Zeit davongerast. Eric wird zum Dinner erwartet, sein Zug geht in einer halben Stunde und er muss sich sputen. Er nimmt mich im Auto mit zurück in die Stadt und als wir uns schon verabschiedet haben, ruft er mir durchs offene Verdeck seines Fiat Cinquecento noch ein paar Galerie- und Restaurantempfehlungen zu. Natürlich werde ich seine Ratschläge beherzigen. Ich weiß ja nun: Der Mann hat einen exzellenten Geschmack.
The Weekender
Ausgabe 31, November 2018