Auf meiner Reise durch Indien habe ich viele denkwürdige Nächte verbracht – darunter solche und solche. Solche am Ufer des Ganges mit einer Million-Dollar-View nämlich oder auch solche in verschimmelten Palästen, in deren Gemeinschaftsbädern die Amöbenruhr kollektiv durchlitten wurde. Ganz zu schweigen von jenen bei einer Bauernfamilie, zu der einige niedrigkastige „Adoptivkinder“ zählten. Und doch ist mir die letzte Übernachtung auf dem Subkontinent besonders lebhaft in Erinnerung geblieben.
Meine Rückreise vom westlichsten Zipfel in Radschastan nach Kalkutta, die ich allein antreten musste, da meine mitreisenden Freunde sich gen Nepal verabschiedet hatten, war ohnehin ein Abenteuer für sich. Sie fiel nämlich auf den Tag des Holi-Fests, an dem man sich gegenseitig mit bunten Farbpigmenten bewirft und beschmiert, wobei die Inder, zumindest die männlichen, mitunter über wenig Berührungsängste verfügen und sich mit ihren bunten Farbbomben mit Vorliebe wildfremden Touristinnen nähern. So kam ich also dezent eingepudert und ziemlich erschöpft in Kalkutta an, ließ am Taxistand des Flughafens noch die üblichen Spielchen über mich ergehen à la „Das Hotel, zu dem du willst, gibt es nicht/ist ausgebrannt/ wurde abgerissen/bietet keinen Komfort/ Ich kenne ein besseres“, bis ich am frühen Abend schließlich mein Ziel erreichte.
Obwohl ich mir laut „Lonely Planet“ eine Unterkunft des gehobeneren Niveaus ausgesucht hatte, wirkte der Eingangsbereich, ein dunkelgelb getöntes Spiegelkabinett, alles andere als vertrauenerweckend. Ich checkte trotzdem ein. Vor meinem geistigen Auge sah ich ein frisch bezogenes Bett – etwas Schöneres, so schien es mir in diesem Moment, konnte es auf Erden nicht geben. Das mit dem Bettbezug erwies sich natürlich als Fata Morgana, aber zumindest ein Bett gab es in dem winzigen Raum. In voller Montur schlüpfte ich unter die kratzige Wolldecke, vergeblich bemüht, möglichst wenig Hautkontakt mit dem leicht klebrigen Textil aufzunehmen, und fiel in einen Dämmerschlaf. Der wurde jedoch unterbrochen, als meine Blase mich zu einem Besuch im Bad drängte, das ich bis dato noch nicht inspiziert hatte. Ehemals rosafarbene Kacheln, die jetzt eine gelbe Glasur aus Schmutz und Fett aufwiesen, empfingen mich dort. Doch im Zuge der Inspektion stellte ich noch etwas anderes fest: Das Bad war leider schon besetzt! Auf dem Deckel der Toilette, die platzsparend unterhalb eines Schlauches (der Dusche) platziert war, saß die gewaltigste Kakerlake der Welt. Zumindest meiner Welt. Ich hatte ein Insekt von dieser Größe noch niemals gesehen, allerdings schien die Schabe ebenso wenig amused. Jedenfalls starrte sie mich aus bösen schwarzen Augen an, als wünschte sie mich auf den Mond.
Nun hat jeder, der nicht völlig blind durch die Welt läuft, schon Kakerlaken gesehen, und theoretisch hatte ich auf meinem vierwöchigen Trip auf vielfältigste Weise Gelegenheit bekommen, mich auf diese Begegnung vorzubereiten. Allerdings: Wer rechnet schon mit einem solchen Monster? Verglichen mit einer herkömmliche Wanze, schien jedes Detail zehnfach vergrößert: angefangen von den langen Fühlern bis hin zu den Widerhaken an den Beinen. Es schüttelte mich. Das Insekt wies die Maße eines halbstarken Hamsters auf – jedoch eines solchen mit dem Temperament einer Schildkröte. Kurz: Es reagierte nicht. Nicht auf Rufen, Winken, Wedeln, nicht auf mein schnelles An- und Ausschalten der Badezimmerfunzel. Es thronte auf dem Klodeckel wie angewachsen und verhielt sich damit komplett artfremd, gelten Kakerlaken doch im Allgemeinen als sehr lichtscheu.
Nach mehrminütigen verzweifelten Versuchen, das unverschämte Tier vom Klo zu jagen, trat ich mit gesträubtem Nackenhaar den Rückzug an und krabbelte unverrichteter Dinge wieder zurück ins Bett. An Schlaf war jetzt überhaupt nicht mehr zu denken. Wie konnte ich sicher sein, dass sich das Vieh nicht spontan zu einem nächtlichen Spaziergang entschloss? Oder womöglich noch ebenso schwergewichtige Verwandte hatte? Die Stunden bis zum nächsten Morgen verbrachte ich damit, indisches Trash-TV zu konsumieren, das aus dem winzigen Plastikfernseher in meinem Zimmer plärrte, vor allem aber damit, nicht an die Unmengen von Wasser zu denken, die ich am Vortag in mich hineingeschüttet hatte. Im Morgengrauen dann packte ich meine Siebensachen. Lieber ein paar Stunden mehr auf dem Flughafen verbringen, als eine Minute länger mit der Kakerlake des Grauens das Zimmer zu teilen. Dass ich die Nacht darauf auf dem Londoner Flughafen festsitzen würde, weil meine Air-India-Maschine mit sechsstündiger Verspätung in Heathrow gelandet sein würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Jedenfalls: Die erste Nacht im eigenen Bett in Düsseldorf zähle ich ohne Übertreibung zu den glücklichsten meines Lebens.
The Weekender
Ausgabe 11
2013