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Sohlenverwandt

Fashion

Majestätisch thront der dreistöckige neoklassizistische Bau über Pirmasens, die von vier Säulen gestützte Einfahrt wird von Statuen bewacht. Dass hier, im südwestlichsten Zipfel der Pfalz, eine ehemalige Schuhfabrik als das schönste Gebäude der Stadt gilt – kein Zufall. Pirmasens war einst die Hauptstadt der deutschen Schuhproduktion und galt als die Stadt mit der höchsten Millionärsdichte. In den späten Sechzigern arbeiteten 22 000 Menschen in den rund 300 Fabriken.

Heute sind es immerhin noch neun Prozent der 40 000 Einwohner, die in Pirmasens am Schuh verdienen. Und in dem Prachtbau namens Neuffer am Park residiert einer der bekanntesten von ihnen: Bernd Hummel, 70, kompakte Statur, ist ein Mann, der Gelegenheiten erkennt und für sich fruchtbar macht. 1990 kaufte er das Industriedenkmal aus dem frühen 20. Jahrhundert, um hier sein Headquarter zu errichten.

Bernd Hummel hat zwei Standbeine im Schuhbiz: Zum ist er Markeninhaber der Zehensandale Flip Flop. Zum anderen hält er die Lizenzen für die Sneakermarke Kangaroos in 23 Ländern und ist damit weltweit größter Lizenznehmer des Labels. Die meisten Kangaroos-Modelle werden in Asien gefertigt. 1,6 Millionen Stück pro Jahr. Bernd Hummels Lieblingskind allerdings sind die in Deutschland produzierten High-End-Kangaroos, die er seit 2012 in limitierten Editionen auf den Markt bringt. 20 000 Paare verlassen jährlich Hummels Schuhfabrik bei Pirmasens – zahlenmäßig fällt das kaum ins Gewicht. Doch für diese hochwertigen Schuhe und deren aufwändige Herstellung, bei der jedes noch so kleine Detail diskutiert wird, brennt Hummel: „Zugegeben – da steckt viel Arbeit drin. Aber Geld verdienen ohne Leidenschaft reizt mich nicht.“

In Münchweiler, einem Örtchen zehn Autominuten von Pirmasens entfernt, werden die Kangaroos-Sondereditionen gefertigt. Hummel kaufte die Produktionsstätte eines früheren Mitbewerbers mitsamt Inventar, nicht zuletzt, um in Pirmasens ein Zeichen zu setzen. Bernhard Ganter, Jeans, Polo-Shirt, blaue Augen, ist Betriebsleiter in Münchweiler. Der Rundgang mit ihm beginnt im Lederlager und führt über den Zuschnitt in die Stepperei. An den Steppmaschinen herrscht konzentrierte Stille. Hier muss jeder Stich sitzen. Verrutscht das dicke Lederstück um einen Millimeter, muss das Teil schleunigst nachproduziert werden. Bei den Limited Editions gibt es keine B-Ware, keinen Ausschuss. Weiter geht es über die Bodenmontage inklusive Zwickerei – wie das Auswölben der Vorderschuhkappe genannt wird – zum Aufkleben der Sohlen. Mit präzisen Handgriffen fixiert der Schuhmacher in etwa einer halben Minute die Sohlen passgenau. Insgesamt vergehen hundert Minuten, bis ein Sneakerpaar fertig im Karton liegt. 22 Menschen sind an den rund hundert Arbeitsschritten beteiligt. Die Produktion in Deutschland hat ihren Preis: Zwischen 230 und 270 Euro kostet ein Paar dieser Kangaroos später im Laden.

„Vor sechs Jahren haben wir hier mit vier Leuten angefangen. Gute Fachkräfte zu bekommen war ein großes Problem. Meist mussten wir die benötigten Spezialisten selbst ausbilden“, erklärt Ganter und sein freundlicher Blick wird nachdenklich. Pirmasens ist nicht mehr das goldene Pflaster von einst. Im Rekordjahr 1969 wurden hier 62 Millionen Paar Schuhe angefertigt. Doch in den 70ern kam der Wandel. Die ersten Schuhproduktionen wurden ins Ausland verlegt und in den Jahren danach belegte Pirmasens vor allem Spitzenplätze bei der Arbeitslosigkeit, der Kinderarmut oder der Zahl der Privatinsolvenzen. Es galt als das Detroit Westdeutschlands, keiner glaubte mehr an die Region.

„Das Trauma, das Pirmasens erlitten hat, als ein Großteil der Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen wurde, sitzt tief und hat auch die nachfolgenden Generationen geprägt“, erklärt Bernd Hummel später in seinem Büro im Neuffer am Park. Das Recruiting sei tatsächlich ein großes Problem. Hummel weiß, wovon er spricht. Er hat das Handwerk von der Pike auf gelernt und die schwierige Zeit selbst miterlebt. Auch er verlagerte in den 1970ern Teile seiner Produktion nach Ungarn, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Wer Hummel nicht kennt, den könnten seine besonnene Art und sein gemütliches Pfälzisch leicht über seine Entscheidungsfreude hinwegtäuschen. 1981 – der Strukturwandel war in vollem Gange – holte Hummel die 1979 in den USA gegründete Sneakermarke Kangaroos über den großen Teich. Auf einer New Yorker Schuhmesse hatte er den Sportschuh entdeckt und bald darauf die Lizenz für die deutschsprachigen Länder und später weitere 20 Märkte gekauft – im Alleingang. Doch wenn er heute seine limitierten Editionen umsetzt, dann zumeist als exklusive Kollaboration: Protagonisten der Sneaker-Szene aus ganz Europa, darunter prominente Musiker und Sportler, aber auch Inhaber bekannter Sneakerstores, reisen in die wiederbelebte Schuhmetropole, um gemeinsam mit Hummel ein neues Modell zu entwickeln. Die verhältnismäßig hohen Ladenpreise spiegeln nicht zuletzt die aufwändige Entwicklung, denn die Abstimmungsprozesse mit den Koop-Partnern sind oft zeitintensiv. Schließlich müssen stilistischer Anspruch und technische Machbarkeit unter einen Hut gebracht werden.

Etwa zehn „Collabs“ setzt Hummel im Jahr um. Ihre Limitierung weckt Begehrlichkeiten bei den Fans und den sportlichen Ehrgeiz, zu den wenigen zu gehören, die eines der Sondermodelle im Schrank haben. Und Hummel ist bei Weitem nicht der einzige, der diesen Pfad beschreitet: Wenn man Kollaborationen richtig umsetzt, verkaufen sich die Produkte wie geschnitten Brot. Preise von bis zu 100 000 US-Dollar, meist nach dem Ausverkauf der Edition auf Auktionen erzielt, und ein enormer Imagegewinn unter den jungen Käufern machen diese Kooperationen zur Königsdisziplin im Sportschuhbiz. Patta in Amsterdam ist so ein Laden, der mit Hummel limitierte Schuhe entwickelte – einmal auch mit dem berühmten Pariser Concept Store Colette als Drittem im Bunde. Overkill in Berlin und Afew in Düsseldorf sind zwei weitere Collab-Partner, die bei Kangaroos anklopften. Der Rapper Moses Pelham und die Jungs des Fashionblogs Dandy Diary standen ebenfalls schon bei Hummel auf der Matte, und die Liste ließe sich weiterführen.

Die Mitarbeiter in Münchweiler sind stolz auf diese Wertschätzung, und natürlich auf die schwarzen Zahlen. Dabei war der Weg zur eigenen Schuhproduktion alles andere als vorgezeichnet. 2012, als der Startschuss für die Edition Made in Germany fiel, standen eigentlich andere To-dos auf Hummels Agenda: Wie seine Konkurrenz kämpfte er damals mit den Umwälzungen im Schuhmarkt. Frühere Giganten wie Reno und Görtz erlebten Einbrüche, neue Big Player wie Zalando und Amazon eroberten das Feld. Es sollte drei Jahre dauern, bis Hummel in diesem Gefüge wieder festen Boden unter den Füßen spürte. „Hätte ich gewusst, welche Schwierigkeiten auf uns zukommen – ich weiß nicht, ob ich frohen Mutes zugegriffen hätte, als die Schuhproduktion zum Verkauf stand. Aber die Gelegenheit war eben günstig.“

Einfach machen, damit hat Bernd Hummel schon viel bewegt. „Nach den anerkannten flugmechanischen Gesetzen kann die Hummel wegen ihrer Gestalt und ihres Gewichts im Vergleich zur Flügelfläche nicht fliegen. Aber die Hummel weiß es nicht und fliegt trotzdem.“ Der Unternehmer wäre gern Pilot geworden, übernahm dann aber als 23-Jähriger die Schuhfabrik seines Schwiegervaters. Nach früher Bruchlandung mit der ersten Firma gründete er eine zweite, die dank seiner gewonnenen Erfahrungen bald florierte. Durch den Eintritt der Töchter Anne-Katrin und Julia ist das Unternehmen zum Familienbusiness gewachsen. So wurde das Hummel-Paradoxon, das verschriftlicht und gerahmt im Flur vor dem Chefbüro hängt, zum Leitmotiv.

Die Bodenhaftung hat Hummel dabei nie verloren: „Wer sich den schwarz-weißen Kangaroos ‚Ovis‘, der momentan für 1600 Euro gehandelt wird, nicht leisten kann? Der kauft eben einen anderen Schuh in Schwarz-Weiß“, sagt Hummel. „Ich finde, der Spaß an der Mode sollte nicht vom Geldbeutel abhängen.“

Lufthansa Exclusive
Ausgabe 5/2019