Als wir den Mode- und Textildesigner Martín Churba in seinem Headquarter im zentralen Nobelstadtteil Recoleta treffen, beschreibt er uns den Weg zu seinem Zuhause folgendermaßen: „Ihr fahrt die Rodríguez Peña runter, biegt links ab in die Avenida del Libertador, und dann geht es immer weiter geradeaus, bis ihr zu meiner Straße kommt. Dort biegt ihr wieder rechts ab und steht nach 300 Metern vor meinem Tor.“ Das klingt überaus einfach – und nah. Wir verabschieden uns und verabreden einen Termin für den darauffolgenden Tag. Der Taxifahrer, dem wir die Adresse am nächsten Morgen nennen, schüttelt nur den Kopf: „Ich fahre nicht so weit aus dem Zentrum heraus, von dort bekomme ich ja nie eine bezahlte Rückfahrt!“ Wir sind perplex. Wie sich herausstellt, ist die besagte Avenida del Libertador eine der längsten Straßen der Stadt. 25 Kilometer zieht sie sich durch die Megacity und ihre direkt anschließenden nördlichen Vororte, Hausnummern im fünfstelligen Bereich sind eines ihrer Markenzeichen. Erst als wir einen saftigen Aufpreis ausgehandelt haben, lässt sich der Fahrer auf den Deal ein, trotzdem begleitet uns die nächste halbe Stunde, in der er kein einziges Mal den Blinker setzen muss, sein mürrisches Schweigen.
Endlich kommt der Blinker doch noch zum Einsatz, wir biegen rechts ab und steigen vor einem Grundstück aus, das hinter einem hohen Holztor liegt. Sind wir hier wirklich noch in Buenos Aires? Nachdem zuvor schier endlos halbhohe Flachdachbauten an unserem Fenster vorbeigeflogen sind, halb leere Autohäuser, wenig vertrauenerweckende Privatschönheitsinstitute, Tankstellen und Grillrestaurants, alles zugepflastert mit schreiend bunten Reklametafeln, tut sich hier unvermutet ein Idyll auf. Aufwendig gestaltete Einfamilienhäuser, umgeben von leuchtendem, großblättrigem tropischen Grün. Zikaden zirpen, und von ferne knattert ein Rasenmäher. Auf unser Klingeln kommt Martín Churba ans Tor – er sieht entspannt aus, gut fünf Jahre jünger als gestern, und das obwohl er gerade dabei ist, eine große Fashionshow zu organisieren. Um seine Beine streicht eine auffallend schöne Siamkatze. „Das ist Tito, sie ist schon biblische 17 Jahre alt“, stellt Martín sie vor. Seine Augen scheinen zu lächeln, und auch als er uns durch sein Haus führt, strahlt er weiter diese ruhige Heiterkeit aus, die bald ansteckend wirkt. Was für ein Glückspilz, denke ich und versuche, mich einen kurzen Moment lang in ihn hineinzuversetzen, um mich an diesem Gefühl zu laben.
Churba ist einer der erfolgreichsten Modedesigner Argentiniens. Er hat seine Berufung gefunden, macht seinen Job mit großer Leidenschaft, kann offenbar gut davon leben, hat eine nette kleine Familie – und wohnt in einem traumhaft schönen Haus. Dennoch holt er mich auf den Boden der Realität zurück. „Hier in Argentinien ein Business zu führen erfordert sehr starke Nerven“, erklärt der 45-Jährige, und das Lächeln in seinen Augen erlischt für einen Moment. „Restriktive Import- und Exportbedingungen, Korruption und Währungsverfall machen uns das Leben schwer. Alles ändert sich ständig: die Gesetze, der Wert unseres Geldes, der Markt. Du kannst dich einfach auf gar nichts verlassen.“ Dass er es dennoch geschafft hat, die wirtschaftlichen Krisen seines Landes zu meistern, liegt wohl an Churbas Talent, aus der Not eine Tugend zu machen. Angesichts der Materialknappheit und der herrschenden Importbeschränkungen hat er sich darauf spezialisiert, die Stoffe, die er bekommen kann, in seiner eigenen Textildruckerei zu veredeln. Tramando heißt das Label, dessen Erfolg vor allen Dingen auf Martín Churbas unverwechselbaren Textilprints beruht.
Dieses hohe Maß an Kreativität und Geschäftssinn zeichnete vor ihm schon andere Mitglieder seiner Familie aus. So war sein Großonkel Alberto Churba in den 60ern und 70ern ein bekannter Möbeldesigner und Innenarchitekt.
Tatsächlich ist Alberto Churba auch Teil der Geschichte des Hauses, durch das uns Martín soeben führt. Inzwischen hat sich Martíns Lebensgefährte Mauro Bernardini – auch er Möbeldesigner und Innenarchitekt – zu uns gesellt und erzählt uns mehr über diese Zufallsentdeckung. „Schon als wir dieses Haus zum ersten Mal sahen, waren wir hingerissen“, gesteht er mit leuchtenden Augen. „Obwohl es eigentlich bereits so gut wie verkauft war, gelang es uns, noch kurzfristig einen Besichtigungstermin zu ergattern. Und dann war da dieses Zeichen: Die Einrichtung des Hauses war geprägt von Martíns Großonkel – wir entdeckten seine Möbel überall. Das erschien uns wie ein Wink des Schicksals. Dieses Haus, das spürten wir, war für uns bestimmt. Und das Glück blieb uns hold: Tatsächlich trat der andere Interessent von seinem Kaufvorhaben zurück, und wir bekamen den Zuschlag.“
Natürlich nahmen die Vorbesitzer die Churba-Klassiker bei ihrem Auszug mit, aber Martín und Mauro gelang es dennoch, das zweistöckige Haus aus dem Jahr 1957 stilsicher einzurichten. Dass es trotz der vielen Designstücke sehr lebendig wirkt, dafür sorgt der Adoptivsohn Alexis, der nach dem Schulunterricht mit Tito und dessen vierpfotigen Gefährten Shakira und Monchita durch die Räume tollt und im Garten die Schmetterlinge jagt. Besonders stolz sind die Bewohner auf ihre neue Küche, die aus Mauro Bernardinis Feder stammt.
Der Rest der Einrichtung besteht aus unverkrampft kombinierten Designklassikern argentinischen und lateinamerikanischen Ursprungs – einige internationale Stücke sind lässig daruntergemischt. Durch die offene Konstruktion des Gebäudes, dessen galerieartiges Obergeschoss über eine prominente Treppe zu erreichen ist, ergeben sich von jedem Standpunkt aus interessante Durchblicke. Harmonisch ergänzen sich die Materialien Glas, Eichenholz, Backstein und Granit. Eine gelungene Komposition des Architekten Rodríguez Etcheto, der noch weitere Häuser in dem schönen Wohnviertel, zwei Blocks entfernt vom Ufer des Río de la Plata, gebaut hat.
Viele Nischen im Haus sind mit gemütlichen Sofas bestückt. Einer der schönsten Plätze für das viel beschäftigte Paar, das auch beruflich eng zusammenarbeitet, ist jedoch die Terrasse im ersten Stock, die an das Wohnzimmer angrenzt. Sie umschließt einen acht Meter hohen Avocadobaum, der unten vor dem Esszimmer seine Wurzeln in den Boden geschlagen hat. Hier würden wir uns gern ein wenig niederlassen, aber Martín muss los. Die Vorbereitungen zu seiner Show sind in der heißen Phase, es ist höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen. Mauro ruft uns ein Taxi. Dass dessen Fahrer, der uns zurück in den Stadtteil Palermo bringt, keinen 30-prozentigen Aufpreis verlangt, wundert uns nur kurz, denn wir haben ja heute eine wichtige Lektion gelernt. Ständige Veränderungen sind die Regel. Und wer weiß: Womöglich wurden ausgerechnet heute die Beförderungsbedingungen modifiziert. Man nimmt es einfach, wie es kommt. Gar keine schlechte Übung für uns.
The Weekender
Ausgabe 10
2013