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Klassiker neu denken

Fashion

Dem Prinzip der Dekontextualisierung folgend bereichert Lutz Huelle die Mode um eine unkonventionelle Formensprache. Bei einem morgendlichen Fitting offenbart der Pariser Designer seine experimentelle Arbeitsweise, erklärt, warum Haute-Couture-Einflüsse eine Rolle in seinen Kollektionen spielen, und spricht über die Vorteile von spätem Erfolg.

Ein wolkenloser Freitagmorgen im Pariser Marais. Noch liegen viele der kleinen Juweliere, Modegeschäfte und Cafés hinter hermetisch verschlossenen Rollläden im Tiefschlaf. Etwa in einer Stunde jedoch wird die Rue du Temple im einstigen jüdischen Zentrum der Stadt von bummelnden Passanten bevölkert sein. Hinter dem wuchtigen Tor der Hausnummer 81 verbirgt sich ein kopfsteingepflasterter und üppig begrünter Hinterhof, an dessen Längsseite ein einstöckiges Ateliergebäude mit hoher Fensterfront steht. Auf dem Ast des eingetopften Lebensbaums unweit der Tür sitzt eine vorwitzige Amsel, als wäre sie Lutz Huelles Vorzimmerdame. Der Pariser Designer hat für heute Morgen ein Fitting anberaumt, die vierte Anprobe für seine neue Herbst-/Winter-Kollektion, und gerade trifft Mélissa Kellauou, sein langjähriges Hausmodel, ein und begrüßt das anwesende Team mit Küsschen auf beide Wangen, David Ballu, Lutz’ Lebensgefährten und Geschäftspartner, Jiyoung Lee, Lutz’ Assistentin, und Sophie Bertho, eine erfahrene Modellistin, die vier Tage die Woche für ihn arbeitet. Man ist en famille.

Lutz Huelle kommt die schmale Treppe aus dem ersten Stock hinuntergeeilt. Er trägt eine Jeans mit Patches in zwei unterschiedlichen Waschungen aus seiner eigenen Kollektion und einen klassischen französischen Seemannspullover. Auch er begrüßt Mélissa Kellauou herzlich und wendet sich dann dem rollbaren Kleiderständer zu, auf dem ein bunter Reigen von fertigen und halbfertigen Mustern neben Teilen aus vorangegangenen Kollektionen hängt. Rund zehn Looks sollen heute besprochen werden, drei Stunden sind dafür eingeplant. Huelle, sportlich und agil, reicht Kellauou das erste Musterteil hinter den Paravent. Es ist ein auberginefarbenes Jerseykleid mit langen Ärmeln und auf der Hüfte angesetztem Volant aus einem Polyester-Taft in etwas dunklerem Violett. „Diese Kleider gehören zu unseren bestverkauften Stücken“, erklärt er, als das Model aus der Umkleide tritt und er das angezogene Stück in Augenschein nimmt. „Sie sind unkompliziert zu tragen und haben dennoch eine große Wirkung. Du kannst darin sogar auf dem Sofa einschlafen – der Stoff verzeiht alles.“ Der Designer wendet sich an Lee und Bertho: „Ich finde es noch zu ‚gentille‘, meint ihr nicht? Es könnte noch ein bisschen sirenenhafter sein, vielleicht setzen wir den Volant ein Stück tiefer an?“ Seine Mitarbeiterinnen nicken und notieren die Änderungen in ihren Unterlagen. 

Dann lässt Huelle das Model mit dem dunklen Dutt zusätzlich in eine überweite distressed Jeans schlüpfen und steckt den Volant des Kleides unterhalb der Brustlinie fest. „So könnte daraus ein gutes Top werden.“ Er tritt einen Schritt zurück. „Bitte zieh diese Jacke doch einmal darüber.“ Er reicht Mélissa Kellauou einen hüftlangen, dunkelblauen Blouson, dessen Knopfpositionen noch mit grünem Heftgarn markiert sind. Kellauou geht ein paar Schritte auf und ab und Huelle wirkt zufrieden. Er bittet sie auf ein kleines Podest und fotografiert den Look mit seinem Mobiltelefon. 80 bis 120 Teile entwirft Lutz Huelle pro Saison. Entwickelte er seine Kollektionen in den Anfangsjahren noch in jeder Saison komplett neu, bedient er sich heute eines Repertoires, das er über die Jahre aufgebaut hat. Die voluminösen Taftvolants aus recyceltem Polyester in kräftigen Farben tauchen in seinen Kollektionen regelmäßig auf. Das nächste Stück, das Mélissa Kellauou anprobiert, ist eine übergroße Baseballjacke aus fuchsiafarbenem Satin. Huelle fordert das Model dazu auf, eine smaragdgrüne Gürteljacke aus der letzten Sommerkollektion darunterzuziehen, und stülpt die Ärmel des Blousons nach innen, sodass die Tulpenärmel der Gürteljacke zum Vorschein kommen. „Dazu fände ich einen superkurzen Rock aus einem festen Material gut. Pas mal, oder?“, fragt er in die Runde. Seine Mitarbeiterinnen sind d’accord und auch David Ballu, der sich heute Morgen um Administratives kümmert, gibt für ein paar Minuten seinen Platz hinter dem Schreibtisch am anderen Ende des Ateliers auf, kommt herüber und nickt zustimmend.

Als Nächstes an der Reihe sind ein Rock mit tief angesetzten Godets, dessen Schnitt in einem Nesselmuster beurteilt werden soll, und ein wadenlanges, fließendes Kleid aus dottergelbem Crêpe. Auch hier offenbart sich Lutz Huelles experimentelle Arbeitsweise, bei der Schere und Stecknadeln im Dauereinsatz sind. Mit wenigen Handgriffen kreiert er eine neue Silhouette, mischt mit sicherem Gespür scheinbar gegensätzliche Stilelemente. Mal schneidet er einen Keil in den rückwärtigen Halsausschnitt einer Bomberjacke, um einen eleganten voluminösen Schalkragen einzusetzen, mal verpasst er einer Vintage-Jeansjacke einen taillenbetonenden Eieruhr-Nahtverlauf. Mit den beiden Kolleginnen bespricht er Verarbeitungsdetails und Verschlusslösungen. Die Atmosphäre im Team ist entspannt und vertraut, Lutz Huelle lacht viel mit Mélissa Kellauou, die auch stets nach ihrer Meinung gefragt wird. Jedes Mal, wenn sie für das abschließende Foto auf das würfelförmige Podest steigt, reicht er ihr galant die Hand. Punkt 13 Uhr entlässt Huelle das Model mit einer freundschaftlichen Umarmung. 

Wir steigen hinter ihm die Holztreppe hinauf in die erste Etage, wo sich neben dem Raum der Schnittmacherin und der Assistentin die Schneiderei und auch sein Büro befinden. Hier sind die Wände mit Miniaturen der fotografierten Looks der letzten zehn Kollektionen tapeziert. Sie dokumentieren, wie sich bei Huelle leuchtendes Pink, strahlendes Gelb oder intensives Hellrot, Puffärmel, Keulenärmel und Tulpenärmel, Drapagen, Raffungen, Volants, Tafte, Pailletten und Metallic-Effekte mit verwaschenem recyceltem Denim oder mit Karostoffen vermählen, flankiert von Trenchcoats und Bomberjacken in neutralen Farben. So nimmt der Designer seinen verspielten Elementen die Süße, den opulenten das Drama, lässt sie ungesehen, frisch, optimistisch und gleichzeitig alltagstauglich erscheinen. Befürchtet er, dass ihm die Ideen einmal ausgehen könnten? „Nein“, lacht Huelle und legt den Kopf etwas schief. „Ich schaue immer nach vorn, bin stets auf der Suche nach einem neuen Ausdruck.“ Wohin sich der Zeitgeist bewegt, auch in popkultureller Hinsicht, dies treibe ihn seit jeher um. „Ich halte es da mit Jenny Holzer: Looking back ist the first sign of ageing and decay“, fügt er hinzu und bietet uns einen Stuhl an seinem Arbeitstisch an. Er selbst nimmt auf einem Sitzball Platz.

Bereits 2000, als Lutz Huelle sich mit seinem Partner David Ballu selbstständig machte, beschäftigte ihn eine Frage: Wieso denkt man in der Mode eigentlich noch immer in Kategorien? „Die Trennung von Straße und Sport, von Arbeits- und Freizeitkleidung leuchtete mir nicht ein.“ Huelle, der von 1995 bis 1998 als Senior Designer für Martin Margiela gearbeitet hatte, dort für die Artisanal- und die Stricklinie verantwortlich war, beschloss, sich mit seiner eignen Kollektion aus diesem Korsett zu lösen. „Heute ist ein solcher Ansatz selbstverständlich geworden, kurz nach der Jahrtausendwende jedoch musste ich mich noch erklären.“ Dem Prinzip der Dekontextualisierung, des Herauslösens von Elementen aus ihrem gewohnten Zusammenhang, ist er von Beginn an treu geblieben. „Gerade Klassiker, also Kleidungsstücke, die so klar lesbar sind wie ein Trenchcoat, eine Jeans oder ein Bomber, eignen sich gut zur Neuinterpretation und Verfremdung.“ Wichtig dabei sei jedoch, die Balance zwischen Tragbarkeit und Abstraktion zu finden. Ein Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang sei für ihn jener der Identität, erklärt Huelle. Denn, so der Designer weiter, nicht nur die Ideen von männlicher und weiblicher Identität würden sich gerade auflösen. „Ein Look ist dann spannend, wenn er verschiedene Facetten einer Persönlichkeit widerspiegelt, wenn die Trägerin nicht auf den ersten Blick einzuordnen ist. Das Tolle an der Mode ist ja: In dem Moment, in dem du schillernd aussiehst, bist du es auch. Dein Äußeres überträgt sich auch auf dein Inneres.“ 

Lutz Huelles Erfolg kam spät. „Wir sind lange unter dem Radar geflogen. Das war auch gut so“, erinnert er sich und blickt aus dem Fenster seines Büros, in dem ein kreativer Überfluss von Stiften und Materialproben herrscht, in den sonnenbeschienenen Hof. „So konnten wir Erfahrungen sammeln und langsam wachsen.“ Viele Designer, die sich mit ihren Kollektionen neu auf dem Markt präsentierten, erlebten anfangs einen Hype. Doch das zu schnelle Wachstum berge Gefahren. „Lieferschwierigkeiten und die Vorfinanzierung der Kollektionen können dich schnell ins Straucheln bringen.“ Für Lutz Huelle kam erst 2015 der Durchbruch, mit Ende Vierzig, anderthalb Jahrzehnte nach dem Start in die Selbstständigkeit. „Wir hatten bereits in vorangegangenen Saisons couturige Elemente in die Kollektion integriert, plötzlich schienen wir damit aber einen Nerv zu treffen.“ Die Inspiration lieferte, wie so oft bei Huelle, die Straße. „Ich erinnere mich noch genau: In der Warteschlange eines Supermarktes fiel mir eine Frau auf, die eine besondere Haltung hatte. Ihre Pose, die Art, wie sie den Kopf neigte und die Hände hielt, wirkte sehr elegant. Ich stellte sie mir unweigerlich in einem Haute-Couture-Kleid vor und fragte mich: Warum sollten wir nicht mehr Couture in den Alltag integrieren? Und tatsächlich eröffnete mir dieser Gedanke sehr viele Möglichkeiten!“ Möglichkeiten, die zu erkunden Huelle nicht müde wird. Bester Beweis: die modifizierte Bomberjacke, eines seiner Signature-Pieces. Seit 2016 ist sie in abgewandelter Form fester Bestandteil seiner Kollektion: mal verlängert als Mantel, mal mit asymmetrischem Verschluss und kontrastfarbigen Wollstoff, mal mit riesigem Schalkragen. 

Ein olivfarbenes Modell, offenbar von ihm in Benutzung, ist auf einer Schneiderpuppe neben Huelles Schreibtisch drapiert. Was fasziniert ihn an diesem Klassiker? „Die Bomberjacke ist maskulin konnotiert. Wenn ich sie anziehe, fühle und bewege ich mich anders. Schon in meiner Jugend trug ich sie, damit man mich an der Bushaltestelle in Ruhe ließ.“ Lutz Huelle ist in Remscheid geboren, einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt. Auf dem Gymnasium lernte er Alexandra Bircken und Wolfgang Tillmans kennen. „Ich hatte meine ganze Jugend damit verbracht, von einem Leben in England zu träumen. Diesen Traum machten wir zu dritt wahr. Alex und ich zogen nach London, um am Central Saint Martins Modedesign zu studieren, Wolfgang studierte in Bournemouth Fotografie.“ An den Wochenenden besuchten sie ihn am Meer. Die Fotos, die später in der i-D erscheinen und die Tlllmans berühmt machen sollten, entstanden in dieser Zeit. Die Verbindung der drei ist nach wie vor eng. Gerade haben Huelle und Bircken, die heute als Künstlerin in München lebt, eine gemeinsame Ausstellung in der Pariser Fondation Pernod Ricard eröffnet. „La pensée corps“ verhandelt in Kleidungsstücken und Objekten die Beziehungen zwischen Körper und Material.   

War es schwierig für ihn als Deutschen, in der Pariser Modewelt zu bestehen? Lutz Huelle wiegt nachdenklich den Kopf. Zwar habe sich die französische Presse anfangs teils skeptisch gezeigt, doch er habe auch einflussreiche Unterstützer gehabt. „Karl Lagerfeld, mit dem ich 2001 gemeinsam in Hyères in der Jury des Mode-Festivals saß, lud mich 2004 zu einem Shooting für ein Designerspecial in der Madame Figaro ein. Dort fand ich mich neben Größen wie Sonia Rykiel, Jean-Charles de Castelbajac, Isabel Marant und Alber Elbaz wieder. Das hatte etwas von einer Initiation.“ In diesem Jahr wurde Lutz Huelle, der seit nunmehr 23 Jahren fest zum Pariser Schauenkalender gehört, zu einer Zusammenarbeit mit der AZ Factory des legendären und 2021 verstorbenen Designkollegen Alber Elbaz eingeladen. „Ich war überrascht, wie viele Gemeinsamkeiten wir hatten. Es war fantastisch, mit seinem Team zu arbeiten“, erinnert er sich. 

Es ist Zeit zum Aufbruch. Wir gehen hinunter, um uns zu verabschieden. „We will always have Paris …“ steht auf einem Stück Papier, das von innen an die Tür geheftet ist. Vielleicht als Aufmunterung für Tage gedacht, die etwas mühevoller als der heutige sind. Auf alle Fälle Ausdruck einer Liebe, die offenbar auf Gegenseitigkeit beruht.

Konfekt 10,
Frühjahr 2023