Charlotte Huguet will eben noch bei Guillaume Potherat Brot holen. Die einspurige Hauptstraße von Barbizon, die von einer winzigen Crêperie, einem Chocolatier, einem Metzger, einer kleinen Supérette und einem Weinhandel gesäumt ist, liegt im Vormittagsdämmerschlaf. Ein Eiswagen wartet auf dem Kopfsteinpflaster des Bürgersteigs auf Kundschaft. „Wir haben Glück“, sagt Huguet. „In Barbizon gibt es alles, was man braucht – und viele gute Restaurants.“ Sie kauft ein Viertel eines Natursauerteigbrotes mit Leinsamen, drei Baisers und ein Dutzend Madeleines für ihre Jungs Leonard und Solal. Die nächste Querstraße ist noch schmaler und von hohen Hecken gesäumt. Dahinter verstecken sich Häuser aus rustikalem Naturstein. Das grüne Eisentor zu ihrem Grundstück steht offen, auf dem Rasen vor dem zweistöckigen Haus kringelt sich ein meterlanger gelber Gartenschlauch in der Sonne, daneben steht eine große Vogeltränke aus Granit.
Die linke der beiden doppelflügeligen Türen, die mit zartgrünen Holzläden bewehrt sind, führt über zwei Steinstufen direkt in die offene, bunt geflieste Küche. Huguet lädt ihre Einkäufe auf der Arbeitsfläche ab. „Wir waren auf Sardinien und sind vorgestern aus dem Urlaub zurückgekehrt“, sagt die Artdirektorin und schlüpft aus ihren Birkenstock-Sandalen. Sie trägt ein nachtblaues knöchellanges Seidenkleid mit Spaghettiträgern von Datura aus Mallorca. Ihre schulterlangen blonden Locken sind noch von der morgendlichen Dusche feucht. „In jedem Jahr unternehmen wir ausgedehnte Reisen nach Südeuropa und lassen uns auf dem Hin- und Rückweg immer ein wenig treiben“, sagt sie. Nicht zuletzt, um in unbekannten Gegenden neue Restaurants auszuprobieren. Ihr Mann Emiliano Schmidt-Fiori und sie kochen beide leidenschaftlich gern und sind große Anhänger der italienischen Küche. „Auf Sardinien haben wir vor wenigen Tagen im Restaurant Il Cormorano in Castelsardo noch eine Pasta mit Bottarga, dem sogenannten sardischen Kaviar, gegessen. Die möchte ich nachkochen“, erklärt die Französin und reiht ihre Zutaten auf der Arbeitsplatte auf. „Statt mit Nudeln serviere ich den Rogen der Meeräsche, der bei uns in Frankreich Poutargue heißt, aber mit Radicchio, den ich heute Morgen in den Jardins de Courances hier um die Ecke bei einem Bioproduzenten gekauft habe. Das leicht Bittere des Radicchio in Kombination mit Zitronensaft passt meiner Ansicht nach wunderbar zu dem würzig-rauchigen Aroma des Meeräschenkaviars und dem cremigen Stracciatella-Käse.“
Charlotte Huguet beginnt, die Radicchioblätter abzuteilen und sie auf einem flachen brauen Keramikteller im Halbkreis auszulegen. Den Stracciatella-Käse, den sie in einem Schüsselchen mit einer Gabel verrührt hat, füllt sie in die Strünke der dunkelroten Salatblätter, den getrockneten Fischrogen raspelt sie darüber. Über die erste Schicht wird etwas versetzt eine zweite Schicht Salatblätter angerichtet und entsprechend garniert. Als der Teller voll ist, verziert Huguet den Salat noch mit kleinen Thymianblättchen. „Ich koche oft intuitiv, improvisiere gern“, erklärt sie über die Schulter hinweg, als sie abschließend noch etwas Zitrone über den Salat träufelt. Doch Inspiration ist Huguet offenbar in jeder Form willkommen – gleich neben dem doppeltürigen Kühlschrank befindet sich ein deckenhohes Regal mit ihrer Sammlung von Kochbüchern: Ottolenghis Gesamtwerk (der Weißkohl mit Tahini-Soße!) daneben Donna Hay, Jamie Oliver und Nadine Levy, die Frau von René Redzepi. Flankiert werden sie von Kompendien über Gourmet-Desserts, Eiscreme, Tartes und Brot. „Il Cucchiaio d’argento“, ein mächtiger Wälzer und die inoffizielle Bibel der italienischen Küche, ist ihr wichtigster Schatz, den sie schon lange hütet.
Huguets Leidenschaft fürs Kochen reicht bis in ihre Kindheit zurück. „Als ich klein war, habe ich immer ein Notizbuch mit mir herumgeschleppt. Jedes Mal, wenn ich etwas aß, das ich mochte, bat ich um das Rezept und ließ es mir in mein Buch hineinschreiben.“ Die Artdirektorin stellt den angerichteten Salat beiseite und holt Keramikteller aus dem Schrank, um damit den Tisch im Garten zu decken: handgearbeitetes, pastellfarbenes Geschirr von Marion Graux, Léa Baldassari und Lola Moreau. „Ich sammle Keramik. Mich fasziniert, dass jedes Stück einzigartig ist und eine eigene Geschichte erzählt. Die Imperfektion jedes Objektes ist reine Poesie für mich“, sagt sie und wendet sich der Zubereitung der Nachspeise zu. „Es gibt eine Anlehnung an Pavlova, eine mit Sahne und Früchten gefüllte Torte aus Baisermasse. Meine Variante jedoch ist weniger aufwändig in der Zubereitung.“ Huguet schlägt Sahne steif, fügt eine Prise braunen Zucker hinzu, dann verteilt sie die Sahne auf dem zerbröckelten Baiser, das sie heute Vormittag bei Guillaume Potherat gekauft hat. Zum Schluss garniert sie die schaumige Süßspeise mit weißen Johannisbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren und Thymian.
„Thymian passt in meine Augen wunderbar zu Desserts. Wir fahren jeden Sommer an die Ardèche. Dort mache ich aus gesammelten Brombeeren eine wenig gesüßte, kurz gekochte Marmelade mit wildem Thymian“, verrät Huguet und beginnt, den Salat, das Geschirr, Gläser und Besteck über die Holzveranda in den Garten zu tragen, wo im Schatten einer hohen Linde ein langer Holztisch auf Böcken im hohen Gras steht. Eine naturfarbene Leinentischdecke von Élitis flattert sacht im Wind. Auf einer Ringelblume neben dem Tisch landet ein Zitronenfalter.
„Mein Mann Emiliano ist sehr naturnah auf einem Landgut in der Toskana aufgewachsen, mit Pferden und vielen anderen Tieren. Er war derjenige, der mich vor zehn Jahren dazu überredet hat, aus Paris wegzuziehen“, erinnert sie sich. Das Haus, das das Paar in Barbizon, rund eine Autostunde südlich von Paris fand, war eine Ruine. „Wir haben es komplett entkernt und renoviert, einen Anbau und eine Werkstatt hinzugefügt.“ Für Emiliano Schmidt-Fiori kein Problem, mit seiner Firma Sycamore Tree baut er Tiny Houses. Auch die Einrichtung hier in Barbizon stammt von ihm. „Emilianos Stil erinnert mich an die französische Architektin und Möbelgestalterin Charlotte Perriand und an den US-Amerikaner George Nakashima“, sagt Huguet. „Es ist der gleiche Geist: Er verwendet modulare Strukturen, die immer wieder ergänzt werden können.“ Wenn Holz in seiner Werkstatt übrig ist, baut Schmidt-Fiori für die Familie ein weiteres Möbelstück – oder erneuert eine Tür. „Wir legen keinen Wert auf Einheitlichkeit. Vielmehr ergibt sich der Charme des Hauses aus der Variation der Hölzer.“ So entstand die Küche aus heller Sibirischer Ulme, die die sogenannte Grain d’orme, die charakteristische starke Ulmenmaserung zeigt. Die Treppe ins Obergeschoss ist aus honigfarbener italienischer Ulme. Die dunkle französische Ulme kam neben Eiche, Kiefer und Fichte bei den Möbeln zum Einsatz.
Huguet arbeitete zwei Jahrzehnte als Interior-Stylistin bei Elle. Wenn es um den Möbelbau geht, lässt sie ihrem Mann jedoch freie Hand. Sie hat an der Pariser École Duperré Kunst, Textil und Mode studiert. Im November 2022 kündigte sie ihre Stelle bei Elle und arbeitet nun freiberuflich. „Früher habe ich versucht, den Wünschen meiner Kunden nachzukommen. Heute steht meine Arbeit für einen bestimmten Look. Das heißt, ich kann mich mehr auf das konzentrieren, was mir entspricht“, sagt Huguet. Ihre Arrangements wirken sinnlich und naturverbunden – ohne jedoch ins Süße abzugleiten. Huguet holt einen heugrünen Keramikkrug mit Wasser aus der Küche und füllt damit die Gläser. Drei Tag pro Woche arbeitet sie in Barbizon, zwei in Paris. Entweder in der Agentur, die sie vertritt, oder an einem Arbeitsplatz im Studio von Freunden.
„Covid hat vieles verändert. Ich habe den unschätzbaren Wert einer selbstständigen Arbeit in einer eigenen Werkstatt erkannt, wie mein Mann sie hat. Ich lebe nun anders, konsumiere deutlich weniger, was mich glücklicher macht“, sagt Charlotte Huguet und nimmt in einem Holzstuhl mit Lehne Platz. Der Umzug habe ihr Leben, ja ihr Denken stark beeinflusst. „Es war mir nicht bewusst, aber ich war sehr aktiv und sehr gestresst in Paris. Hier bin ich aufgeblüht und konnte mir darüber im Klaren werden, welche Geschichten ich mit meiner Arbeit wirklich erzählen will. Ich habe eine eigene Vision entwickelt, abseits jeglicher modischen Codes, denen du dich in der Stadt ja kaum entziehen kannst“, sagt sie und nippt an ihrem Wasser.
Huguets Mann Emiliano, drahtig mit meliertem Bart, kommt aus der Werkstatt, die in L-Form als flacher Anbau an das Haus anschließt. Leonard und Solal, gebräunt in bunten T-Shirts, werden von der Aussicht auf das Mittagessen aus ihren Zimmern gelockt. Der 13-jährige Solal liebt das Theater und liest viel, der 15-jährige Leonard hat den Vormittag malend verbracht – und ist damit in berühmte Fußstapfen getreten: Gegen Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts wurde im Ort die École de Barbizon von einer Gruppe französischer Landschaftsmaler gegründet. Es handelte sich jedoch nicht um eine Schule im engeren Sinne. Die Maler strebten weder eine einheitliche Ästhetik noch eine feste Programmatik an. Was sie einte, war vielmehr die Ablehnung der akademischen Lehre zugunsten eines unmittelbaren Zugangs zur Natur. Die Kolonie, um 1830 von Théodore Rousseau gegründet, beeinflusste bis 1870 und darüber hinaus maßgeblich die Landschaftsmalerei in ganz Europa, vor allem den Impressionismus.
Auch Charlotte Huguet hat sich mit ihrem Umzug aufs Land als Vorreiterin erwiesen. „Einige unserer Freunde haben es uns gleichgetan – nachdem sie uns zunächst davon abgeraten hatten, unsere Pläne in die Tat umzusetzen.“ „Ihr werdet vereinsamen!“ sei die Warnung gewesen, die sie und ihr Mann am häufigsten zu hören bekommen und die sie dennoch in den Wind geschlagen hätten, sagt Huguet.
Und tatsächlich war das Gegenteil der Fall. „Ein bis zweimal im Monat lade ich Freunde und Nachbarn ein. Nicht selten sind wir zwanzig Erwachsene und zwanzig Kinder. Der Garten bietet ja viel mehr Platz als unsere frühere Wohnung in Paris.“ Huguet bereitet dann, inspiriert von ihrer italienischen Schwiegermutter, eine große Pasta und Salate zu. Bei diesen Gerichten komme es auf ein oder zwei Gäste mehr am Tisch nicht an. „Ich liebe es, Menschen, die ich schätze, miteinander bekannt zu machen“, sagt Huguet und streicht sich eine Haarlocke hinter das Ohr.
Ihre Freundinnen, die Möbeldesignerin Gesa Hansen, die Journalistin Estelle Marandon und die Fotografin Nathalie Mohadjer, sind inzwischen ihrem Beispiel gefolgt. „Coming Home to Nature: The French Art of Countryfication“ heißt das Buch, das die vier Stadtflüchtigen gemeinsam mit der Pariser Fotografin Stephanie Füssenich veröffentlicht haben. Nun erwägen sie, zusammen passende Heim-Accessoires zum Leben auf dem Land zu entwickeln. Langeweile droht ihr also auch im beschaulichen Barbizon nicht. Doch jetzt, nach dem Mittagessen, macht Huguet erst einmal einen ausgedehnten Spaziergang im Forêt de Fontainebleau. Wie jeden Tag.
Konfekt,
Sommer 2024