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Fest der Farben

Food / Interior Design / Interview

Furniture, Fashion, Food – in Mailand huldigt man dem guten Geschmack. Die ehemalige Modedesignerin Rossana Orlandi ist in den letzten zwei Dekaden zu einer der bekanntesten Galeristinnen weltweit avanciert und empfängt Konfekt gemeinsam mit ihrer Tochter Nicoletta Orlandi Brugnoni zum Lunch in ihrer Designgalerie im eleganten Mailänder Stadtteil Sant’Ambrogio.

Wenn Rossana Orlandi einkaufen geht, darf es gern etwas mehr sein. Heute Morgen war sie, wie jeden Donnerstag, auf dem Mercato di San Marco und hat Gemüse gekauft: einen riesenhaften Wirsing, leuchtend orangefarbene Hokkaido-Kürbisse, gelbe und grüne Zucchini, lange Lauchstangen, pralle Fleisch-Tomaten, außerdem Radieschen, Endiviensalat, Kopfsalat, Friséesalat, rote Zwiebeln, Auberginen, Brokkoli, Möhren, Bohnen, Mangold und Stängelkohl. Alles wartet nun in hellen, langen Holzschalen auf der Theke der Freiluftküche ihrer Galerie auf seine Zubereitung. Rossanas Tochter Nicoletta Orlandi Brugnoni, cremefarbene weite Baumwollhose und ein in Blautönen geringeltes Top zu Sneakers, tritt in die offene Küche und wirft einen kurzen Blick auf die Gemüsepracht. „Wunderbar! Ich koche Orecchiette Cime di Rapa, ein Gericht aus Apulien“, ergänzt sie noch, bevor sie nach dem Cime di Rapa, dem Stängelkohl greift und gewissenhaft die größeren Blätter von den kleinen trennt. „Die großen Kohlblätter sind zu hart und schmecken sehr bitter. “ Ihre Mutter, die ein paprikarotes Top und einen losen, ungefütterten Mantel in gebranntem Sienna zu einer hellen Hose mit chinesischem Druck, grüne Wildleder-Mokassins und eine Breitcord-Basecap in der gleichen Farbe trägt – und natürlich ihre ikonische weiße Brille mit den blau getönten Gläsern –  sieht ihr über die Schulter und feixt: „Ich liebe gutes Essen, schaffe es aber, kochendes Wasser anbrennen zu lassen.“ Die Tochter wirft ihr einen  amüsierten Blick zu, sie kocht für ihr Leben gern. „Mit 14 habe ich angefangen, in meiner Freizeit zu kochen. Meine Jugend verbrachte ich damit, Kochkurse zu belegen.“ Noch heute steht sie zwischen fünf und sechs Uhr morgens auf, um bei Sonnenaufgang das Mittagessen für ihre beiden Kinder zuzubereiten, das sie ihnen in die Schule mitgibt. Am Abend kocht sie ein zweites Mal – dann für die ganze Familie.

In einer Pfanne erhitzt Nicoletta Orlandi Brugnoni Olivenöl, gibt drei ganze Knoblauchzehen hinzu und lässt zwei Anchovis-Filets im Öl zergehen. Dann löscht sie mit etwas Pinot Grigio ab. Wenige Augenblicke später zieht ein würziger Duft über die große, von über hundertjährigen Erdbeertrauben üppig berankte und teilweise überdachte Terrasse, auf der sommers wie winters gegessen wird.

Rosanna Orlandi fischt zwei frische Walnüsse aus einem Korb in der Küche und öffnet sie energisch mit einem Handnussknacker. Während ihre Tochter den Cime di Rapa klein schneidet, löst sie mit perfekt manikürten, feuerroten Nägeln die Haut von den Nusskernen ab.

Seit 21 Jahren residiert Orlandi mit ihrer Galerie in der ehemaligen Krawattenfabrik des Herstellers Prochnovnich im Mailänder Stadtteil Sant’Ambrogio – ein 1800 Quadratmeter großes Labyrinth voller extravaganter Möbel und Designobjekte: Kunstharztische in die Ähren, Farne und Blumen eingegossen sind, marmorierte Sessel aus Silikon, Möbel aus widerverwendeten Holzplanken, Korblampen, die um recycelte PET-Flaschen geflochten sind – ein „organisiertes Chaos“ aus einzigartigen Stücken nannte die Trendforscherin Li Edelkoort die Wunderkammer von Rossana Orlandi einmal. Dank ihres progressiven Ansatzes und ihrer eklektischen Auswahl avancierte sie zur Grande Dame der Mailänder Design Week. Während des Salone del Mobile, der renommierten Mailänder Möbelmesse, führt  für Design-Aficionados kein Weg am Spazio Rossana Orlandi vorbei. Brad Pitt und der Emir von Katar geben sich bei ihr die Klinke in die Hand.

Was treibt sie an? „Eine unstillbare Neugierde“, sagt die 78-Jährige und reicht uns  einen der geschälten Walnusskerne weiter. „So frisch sind sie am besten!“

Rossana Orlandi ist immer auf der Suche nach unverbrauchten Ideen – aktuell findet sie die Designszenen in Budapest und Warschau besonders inspirierend. „Die Begegnungen mit den jungen Designern sind für mich wie das Wasser für die Blume“, verrät Orlandi. „Ich rate dem Nachwuchs immer: Wenn ihr es zu etwas bringen wollt, bleibt auf dem Teppich – und macht keine Stühle!“ Gibt es schon zu viele Stühle? „Ouff“, sagt die zierliche Mailänderin nur und verdreht die Augen. „Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es auf der Welt viel mehr Stühle gibt als Menschen.“

Rossana Orlandi ist dafür bekannt, Talente zu entdecken. Künstler wie Piet Hein Eek, Nacho Carbonell, Tom Dixon, Sebastian Wrong und Jaime Hayon sind bei und mit ihr groß geworden. Und natürlich ist es insbesondere für aufstrebende Designer ein Ritterschlag, in ihrer Master Gallery gezeigt zu werden. Ihre Stimme, die sie in Design-Jurys und als Kuratorin für Ausstellungen weltweit einbringt,  hat Gewicht,  Unter ihrer Ägide verwandelt sich Contemporary Design in Collectible Design. Wie im Falle des Schranks von Maarten Baas, dem mit 190 000 Euro momentan teuersten Stück in der Galerie. „Der ‚Sculpt‘-Schrank sieht durch sein Walnussfurnier aus wie ein Holzschrank, ist aber tatsächlich aus Metall. Seine ungewöhnliche schiefe Form basiert auf einer schnellen, bewusst laienhaft wirkenden Skizze, die auf ein monumentales Maß vergrößert wurde. Das macht ihn so charmant. Er ist der letzte aus einer Serie von acht Exemplaren“, erklärt Orlandi, die das Ungesehene liebt, und gibt zweien ihrer Mitarbeiter, die, wie einer geheimen Choreographie folgend, Möbelstücke und Designobjekte hin- und hertragen, einen Tipp für den Transport eines besonders empfindlichen Stücks.

Die Kriterien, nach denen sie die Teile auswählt, die einen der begehrten Plätze in ihrem Kosmos erhalten, klingen simpel. „Konzept, Material, Farbe, Form, Herstellungsweise.“  Hinzu kommt natürlich ihr persönlicher Geschmack: „Ich verkaufe nichts, was ich nicht liebe!“, sagt Orlandi, zupft mit ihrer mit einem großen Pomellato-Ring geschmückten Rechten ein dickes Radieschen aus der Gemüseschale und beißt genussvoll hinein. „In den letzten Jahren wurde Nachhaltigkeit ein immer wichtigeres Kriterium,“ ergänzt ihre Tochter über die Schulter hinweg und gibt den klein geschnittenen Cime di Rapa in die Pfanne. Nicoletta Orlandi Brugnoni arbeitet gemeinsam mit ihrer Mutter an dem 2019 gegründeten Projekt „Guiltlessplastic“. Ziel ist es, Plastikabfällen ein zweites Leben zu geben. „Beim diesjährigen Wettbewerb haben wir über 600  Einsendungen gesichtet. Einer der Preise ging an Pure Plants von Carmelo Zappulla, dessen im 3D-Verfahren gedruckte Kaktus-Skulpturen Kohlendioxid absorbieren können“, sagt Nicoletta Orlandi Brugnoni. „Schau mal. Zwei seiner Objekte stehen dort auf dem Tisch, an dem wir essen werden.“

Sie setzt einen großen Topf Nudelwasser auf,  ihre Mutter wendet sich mit weißen Tellern in der Hand den gekachelten Tischen von Iris Ceramica zu, die grüne, rote und violette Farbinseln auf der üppig bewachsenen Terrasse bilden. Sie werden flankiert von kanariengelben Kastenstühlen, ein Entwurf von Enzo Mari für Anonima Castelli aus dem Jahr 1976 – ein fröhliches Farbgewitter unter den zig flackernden LED-Laternen von Moritz Waldemeyer, die in der weinberankten Pergola befestigt sind.

Ihre große Liebe zu Farben lebte Orlandi bereits als Modedesignerin aus. 30 Jahre war sie in der Modebranche tätig, als Tochter einer Familie von Garnfabrikanten hatte sie sich auf Strick spezialisiert. „Ich habe im Mailänder Instituto Marangoni studiert, sass dort neben Franco Moschino. Moschino fiel durchs Examen – er war einfach zu kreativ“, erinnert sich die Galeristin mit einem kleinen nostalgischen Lächeln. Orlandi arbeitete für Chloé mit Karl Lagerfeld zusammen, beriet Giorgio Armani, Kenzo, Donna Karan und Issey Miyake. Dann wurde ihr die Modewelt zu wichtigtuerisch. „In der Mode geht es immer um die Außenwirkung, Interior Design ist intimer“, erklärt sie. Ihr Telefon klingelt. „Mio marito“ steht auf dem Display und Orlandi nimmt ab, um einige organisatorische Dinge mit ihrem Mann, einem ehemaligen Orthopäden, zu besprechen. „Er ist ein wandelndes Lexikon“, sagt sie, als das Gespräch beendet ist. „Ich nenne ihn auch Treccani, nach der italienischen Enzyklopädie, weil er so viel weiß. Als ich ihn heiratete, kannte ich ihn gerade einmal drei Monate. Ich bin also quasi mit einem Unbekannten in die Flitterwochen gefahren.“ Offenbar hatte sie auch bei dieser Wahl eine glückliche Hand. Inzwischen ist sie seit 46 Jahren verheiratet.

Ihre Tochter hat die Orecchiette inzwischen in den Topf gegeben und al dente gekocht. Sie gießt sie ab und vermengt sie mit dem Cime di Rapa. Ihre Mutter schenkt den Rosso Piceno ein, der von Freunden der Familie, den Besitzern des Weinguts Villa Bucci, stammt.

Die Leichtigkeit, mit der Rossana Orlandi am Tisch Konversation betreibt hat etwas Schmetterlingshaftes. Auch Ernstes hat Raum (Orlandis Bruder starb an Covid), dominiert aber nicht. „Ich genieße das Leben. Und ich habe gerne Spaß. Nie würde ich Eintritt für einen Kinofilm bezahlen, in dem ich weinen muß. Wozu?“, sagt sie und lächelt verschmitzt durch die getönten Gläser ihrer großen Brille. Sie liebt es, Menschen um einen Tisch zu versammeln, Essen, Ideen und Gedanken zu teilen. „Jede Woche lade ich sieben Freude und Bekannte hierhin zum Abendessen ein. Und ich achte darauf, dass sie sich untereinander nicht kennen. Daraus ergeben sich die interessantesten Gespräche!“ Das Essen kommt dann aus ihrem eigenen Restaurant BistRO, einem Ableger des Zwei-Sternelokals Il Luogo di Aimo e Nadia, für das sie 2018 im Vorderhaus des Fabrikgeländes Platz schuf. „Gestern war eine Künstlerin dabei, ein Architekt, und seine Gattin, die bei Ferragamo arbeitet, die ehemalige CEO von Pucci, und ein Anwalt mit seiner bewunderswerten Frau – er ist Mitte Neunzig und ein fantastischer Unterhalter. Es war ein unvergesslicher Abend!“, erinnert sich Orlandi strahlend. Und fügt mit einem liebenswerten Lächeln hinzu: „Ehrengast aber war mein Mann. Er ist 89 und nimmt eher selten an unseren Dinners teil.“

Konfekt,
Frühjahr 2024