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Empire State
Building, NYC

Travel

Wenn ich es kurz machen müsste, würde ich sagen: Mein Lieblingsort ist oben. Ich liebe es schlichtweg, die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten. Die Dinge im Blick zu haben – und gleichzeitig Abstand von ihnen zu gewinnen.

So muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich für mein Leben gern fliege. Die tiefe innere Ruhe, die sich schon beim Abheben einstellt, hat das Zeug dazu, mich süchtig zu machen. Wofür ich sonst Stunden der Meditation benötigen würde, geschieht hier innerhalb weniger Minuten – mit der gleichen rasenden Geschwindigkeit sozusagen, mit der das Flugzeug beschleunigt. Alles, was ich unter mir zurücklasse, wird ein klein wenig weniger wichtig. Ich bewege mich mit Schallgeschwindigkeit – besser gesagt, ich werde bewegt –, muss nichts dazu tun … herrlich! Voraussetzung ist natürlich ein Fensterplatz, für den ich, wie meine Freunde und Mitreisenden wissen, fast zu töten bereit bin. Was für eine Verschwendung, wenn abgeklärte Anzugträger schon beim Start der Maschine ihre „Financial Times“ ausbreiten und die kleiner werdende Welt nicht des geringsten Blicks würdigen!

Dennoch ist das Flugzeug nicht mein Lieblingsort. Das verhindern mein ökologisches Gewissen – meine CO2-Bilanz ist ohnehin schon zum Fürchten – und der mangelnde Abstand zwischen den Sitzreihen. Ich habe einfach gerne den Überblick – ob vom Flugzeugsitz oder Dachfenster aus, von Berggipfeln oder Wolkenkratzern.

Mein liebster Ausguck ist einige Flugstunden entfernt, und ich teile meine Leidenschaft für ihn mit Tausenden von Menschen, die ihn täglich besuchen. Doch das kann meiner Liebe nichts anhaben: Obwohl New York in meinem persönlichen Städteranking lediglich einen Platz im Mittelfeld hat, erlebte ich hier, auf dem Dach des Empire State Building, umgeben von unzähligen Touristen, den schönsten Moment tiefer Besinnung. Mitten im Big Apple, im Auge des Orkans, fühlt man sich angekommen, wie im Zentrum des Weltgeschehens. Der Blick nach Süden ist an kühlen, sonnigen Tagen am besten: Man schaut auf Manhattan, die Wall Street und Ground Zero, die Fifth Avenue, die das Hochhausmeer diagonal durchschneidet, das Flatiron Building – von Ferne winkt die Freiheitsstatue.

Die Sonne wärmt das Gesicht, die Tauben landen auf der Brüstung. Sie mustern einen neugierig, wie verwundert darüber, überhaupt einen Menschen in diesen luftigen Höhen anzutreffen. In ihrem Ausdruck scheint Respekt zu liegen und eine Komplizenschaft, die sich unten am Boden nie ausmachen lässt.

Um die Magie des Moments noch zu steigern, empfiehlt es sich, die Augen halb zu schließen, wie eine Katze, die an ihrer Lieblingsstelle gekrault wird. Denn dann bricht sich das Licht hundertfach in den Wimpern und erzeugt ein Rautenmuster auf dem Schachbrett Manhattans, das sich, ein paar Mal auf- und abgeblinzelt, über die diagonalen Linien der Absperrgitter legt. Als Lohn winkt ein zutiefst beruhigendes Einssein mit der Welt, das noch Monate, ja oft Jahre später für vieles entschädigt. Das Empire State Building – für mich ein Seelenconditioner mit Langzeitgarantie.

 

The Weekender
Ausgabe 5
2014